Wir sind das Volk: Wir wählen (16.15 Uhr)
Wir sind das Volk, und wir dürfen frei, gleich und allgemein wählen. Welche Bedeutung das hat, analysiert Jörg Bollmann im Podcast zur Bundestagswahl 2009. Hier ist der Volltext.
27.09.2009
Von Jörg Bollmann

Wir sind das Volk. Dieser Ruf ist Geschichte. Vor zwanzig Jahren hat sich der eine Teil der deutschen Gesellschaft befreit. Von Zwangsherrschaft. Von Bespitzelung. Von Gefangenschaft in einem Staatswesen. Von Drangsalierung ihrer religiösen Glaubenüberzeugung.

Wir sind das Volk. Hunderttausende skandierten es auf der Straße. In Leipzig, in Dresden und anderswo in der DDR. Sie sammelten sich in den christlichen Kirchen und gingen auf die Straßen. Mutig. Entschlossen. Voller Gottvertrauen.

Wir sind das Volk. Am 9. November 1989 hatten sie es geschafft. Die Mauer wurde zum Einsturz gebracht. Die Grenze überwunden. Am 18. März 1990 durften die Menschen in der DDR das erste Mal demokratisch wählen: Allgemein, unmittelbar, frei, geheim und gleich. So steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Heute, am 27. September 2009, wählt Deutschland erneut. Das sechste Mal seit dem Fall der Mauer. Sind wir uns alle der Bedeutung noch bewusst? Wir sind das Volk – wir dürfen wählen. Die Bedeutung dessen können wir uns an einem Tag wie heute gern noch mal in Erinnerung rufen.

Vor vier Jahren folgten rund 77,7 % dem Aufruf zur Stimmabgabe – enttäuschend wenig. Erste Trends deuteten bis zum frühen Nachmittag darauf hin, dass die Wahlbeteiligung heute noch einmal sinken könnte. Vielleicht sogar bis runter auf einen Minusrekord. Das wäre nicht gut! Falls es so käme, müssten wir uns alle Gedanken machen, was passiert in unserer Demokratie. Das wird vielleicht eins der Themen ab 18 Uhr.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, hat heute morgen im Deutschlandradio noch mal klar appelliert: „Wer nicht wählt, stärkt die Extreme.“ Auch die Bischöfin der Landeskirche Hannover, Margot Käßmann, hat deutlich Position bezogen: Noch heute wären Menschen in vielen Teilen der Welt froh, wenn sie dieses Grundrecht, wählen zu dürfen, besäßen. Das Wahlrecht sei bitter erkämpft worden, vor allem für Frauen. "Das einfach verächtlich zu ignorieren, halte ich nicht für eine akzeptable Haltung", sagt Frau Käßmann.

Wir sind das Volk. Wir wählen heute. Das ist erste Bürgerpflicht. Und was kommt dabei heraus? Das ist die politische Frage, über die ab 18 Uhr heute abend diskutiert wird. Die Klischees, dass evangelische Christen eher links und Katholiken tendenziell rechts wählen, können wir wohl ad acta legen. Kanzlerin Merkel und ihr Gegenkandidat Steinmeier sind evangelisch getauft, in bioethischen Fragen marschieren katholische Bischöfe und Grüne neuerdings Seit an Seit.

Ideologisch-religiös geprägte politische Entscheidungen finden wir in der historischen Mottenkiste.
Stattdessen blicken wir auf die Farbenspiele. Schwarz-gelb geht politisch, aber reicht es? Die Sozialdemokraten haben, so sehen es die Meinungsforscher, einen furiosen Endspurt hingelegt. Vielleicht bringen die sogenannten Überhangmandate CDU/CSU und FDP die erhoffte Mehrheit.

Wenn nicht, wird’s bunt, aber nicht einfach. Die Türen für rot-rot-grün, Jamaica oder Ampel haben SPD, Grüne und FDP jeweils in dieser Reihenfolge zugemacht. Für schwarz-grün reichts wohl rechnerisch noch weniger als für schwarz-gelb. Bleibt die Große Koalition – die Fortsetzung von schwarz-rot. Das mag wahrscheinlich sein. Doch wenn sich das abzeichnen sollte, eröffnen wir ab 18 Uhr heute abend auch gleich die Debatte: Wie lang soll das gehen? Ein Jahr oder zwei? Eine Legislaturperiode lang halten die meisten politischen Beobachter für unwahrscheinlich.