Der Mann ist Fernsehprofi. Er liebt den großen Auftritt und die große Geste. Und vor allem liebt er es, im Mittelpunkt zu stehen. Offenbar hatte man diesen Mann zu lang warten lassen. Oder vielleicht hatte er gedacht, er sei der Einzige, der an diesem Abend geehrt werden würde. Vielleicht hatte er zu seiner Ehrung auch eine Paulskirchenrede erwartet. Jedenfalls brach es, als er endlich auf der Bühne stand, aus ihm heraus.: Er habe in seinem Leben viele Preise bekommen, darunter auch die höchsten, wie den Thomas-Mann-Preis und den Goethe-Preis. Doch heute sei er "in einer ganz schlimmen Situation". Er gehöre nicht in die Reihe derjenigen, die an diesem Abend ausgezeichnet worden seien. Er könne den Preis daher nicht annehmen und er finde es auch "schlimm, dass ich das hier vier Stunden erleben musste".
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Offenbar hat sich die Zeit, die Marcel Reich-Ranicki da unten in der ersten Reihe auf dem "harten Stuhl" sitzen musste, für den 88-Jährigen ins Unermessliche gedehnt. Die Preisverleihung dauerte noch keine zweieinhalb Stunden, als Thomas Gottschalk, der Moderator des Abends, den Höhepunkt, die Auszeichnung des Ehrenpreisträgers spontan vorzog, weil der zu Ehrende in der ersten Reihe deutlich zu erkennen gegeben hatte, dass er andernfalls den Saal verlassen würde.
Dass Reich-Ranicki an diesem Abend sämtliche ungeschriebenen Regeln brach, die für Preisverleihungen gelten, verzieh man ihm, wie man ihm ja fast alles verzeiht. Schließlich ist er, je älter er wird, immer mehr wie ein "glückliches Kind" (Dieter Wellershoff), das vor allem dann glücklich ist, wenn es im Mittelpunkt steht – und ungeduldig wird, wenn das einmal nicht der Fall ist.
Ich-Bezogenheit
Unverzeihlich ist aber für einen Kritiker die offensichtliche Unkenntnis, mit der er über das sprach, was an diesem Abend ausgezeichnet wurde. Offenbar kannte er weder Filme wie "Das Gelübde", in dem der als bester Schauspieler ausgezeichnete Mišel Mati?evi? den Schriftsteller Clemens Brentano spielte, noch herausragende Reportagen wie "Alt sein auf Probe", die die ARD immerhin um 20.15 Uhr zur besten Sendezeit gezeigt hatte. Und man muss schon sehr ich-bezogen sein, um nicht zu merken, wie unhöflich es den anderen Preisträgern gegenüber ist, wenn man all die Leistungen, die an diesem Abend ausgezeichnet wurden, als "Blödsinn" bezeichnet. Kein Wunder also, dass einige der zuvor Geehrten kein zweites Mal aufstanden, als Reich-Ranicki den Saal verließ.
Nun erwartet niemand von einem Mann wie Reich-Ranicki profunde Kenntnisse des TV-Programms, doch sollte er dann über das, was er nicht kennt, lieber schweigen. Wie er es wohl auch von den Leuten erwarten wird, die die Bücher, über die er spricht, nicht gelesen haben. Es wird daher interessant sein, zu sehen, worüber Marcel mit seinem neuen Freund Thomas am Freitag in der ZDF-Sendung "Aus gegebenem Anlass..." reden wird. Das nämlich hat sich der zornige Reich-Ranicki mit seinem Wutausbruch ertrotzt: einen neuen Auftritt in dem von ihm so geschmähten Medium Fernsehen.
Es war ein Zusammenprall der Kulturen, den das Publikum an diesem Abend erleben durfte. Die gute alte deutsche E-Kultur prallte da mal wieder auf die amerikanisch verseuchte U-Kultur. Ein Kulturkampf, den man längst für überwunden geglaubt hatte. Offenbar hatte sich Reich-Ranicki zuvor gar nicht mit der Frage beschäftigt, wer da außer ihm noch ausgezeichnet werden würde. Und es ist nur dem beherzten Einsatz von Moderator Thomas Gottschalk zu danken, der seiner Berufsbezeichnung an diesem Abend alle Ehre machte, dass alle Beteiligten den Saal am Ende noch mit einigermaßen erhobenem Haupt verlassen konnten.
Zorniger alter Mann
Ärgerlich am Ausbruch des Kritikers ist jedoch, dass er damit all die anderen Ausgezeichneten – und deren großartige Leistungen – an den Rand gedrängt und die Veranstaltung für sich monopolisiert hat. Die Internetpublikationen schrieben am Sonntag – auch wegen der völlig unsinnigen Sperrfrist, nach der die Preisträger erst nach der Ausstrahlung der Sendung im ZDF bekannt gegeben werden sollten – nur über den Auftritt des zornigen alten Mannes. Selbst die "Tagesschau" berichtete am Montagmorgen nur über Reich-Ranicki und die als beste Schauspielerin ausgezeichnete Veronica Ferres. Kein Wort über den ARD-Film "Contergan", für dessen Ausstrahlung Produktionsfirma und WDR jahrelang gekämpft hatten. Kein Wort über den großartigen Mišel Mati?evi? oder "Switch Reloaded", das derzeit zu den besten Parodien im deutschen Fernsehen zählt. Kein Wort auch über den wunderbaren Nebendarsteller Michael Gwisdek, dessen Dankesrede zu den Glanzpunkten des Abends gehörte. Ganz zu schweigen von so hinreißenden Serien wie "Dr. Psycho" (leider nur nominiert und nicht ausgezeichnet), die wegen der großartigen Ensembleleistung derzeit zum Besten gehören, was es im deutschen Fernsehen gibt.
Man kann, wie immer, über einige Auszeichnungen streiten. Man kann grundsätzlich der Meinung sein, dass eine Show wie "Deutschland sucht den Superstar" keinen Preis verdient hat. Doch kein Fernsehkritiker könnte behaupten, dass das vergangene Fernsehjahr ein schwaches Jahr gewesen wäre oder dass die Jury ausgerechnet im zehnten Jahr des Fernsehpreises lauter falsche Entscheidungen getroffen hätte. Im Gegenteil. Die Entscheidungen waren in diesem Jahr sehr austariert, allenfalls könnte man kritisieren, dass ein Sender wie RTL, der seit Jahren kaum noch Innovatives wagt, mit insgesamt neun Preisen (davon allerdings drei in den Kategorien Schnitt, Kamera und Musik) viel zu gut weg kam. Doch eine solche Diskussion kann jetzt gar nicht mehr geführt werden. Denn wie kann ein solcher Preis überhaupt noch etwas wert sein, wenn der große Literaturpapst alles, was da zu sehen war, als "Blödsinn" bezeichnet hat?
Parasitärer Journalismus
Reich-Ranicki sollte bei all seinem vielleicht berechtigten Ärger über das Medium Fernsehen nicht vergessen, wie viel er selbst diesem Medium zu verdanken hat. Mehr als das Medium ihm. Seine große Popularität – die dazu führte, dass auch "Bild" am Montag und Dienstag mit dem "Reich-Ranicki-Eklat" aufmachte – gründet nicht zuletzt darauf, dass er selbst ein großer Vereinfacher ist. Er kommt im Fernsehen vor allem deshalb so gut an, weil er so gern ungerechte Pauschalurteile fällt. Im Übrigen ist es sehr apart zu beobachten, wie die Boulevardzeitung, die sich jahrelang gut von "Dschungel-Show" und DSDS genährt und damit auch zum Erfolg dieser Art Fernsehen beigetragen hat, sich nun tagelang von der Fundamentalkritik des Kritikers nährt. "Verlogen" ist nicht, wie Elke Heidenreich behauptet, das Fernsehen oder eine solche Preisverleihung, bei der sich die Branche einmal im Jahr selbst feiert. Verlogen ist diese Art von parasitärem Journalismus.
In einem Punkt hatte Reich-Ranicki dennoch recht: Er gehörte nicht in die Reihe der Ausgezeichneten. Aber das hätten die Verantwortlichen selbst erkennen müssen. Reich-Ranicki hat sich in Deutschland gewiss um die Literatur sehr verdient gemacht - doch um das Fernsehen? Das Medium hat ihn nie wirklich interessiert. Sein Verdienst war, dass er qua Persönlichkeit eine Literatursendung im deutschen Fernsehen etablierte, die akzeptable, aber alles andere als überragende Quoten brachte. Die Sendeform an sich war nicht besonders innovativ, sondern vielmehr seit Dietmar Schönherrs "Je schöner der Abend" im deutschen Fernsehen etabliert. Vier Menschen sprachen über Literatur und bei der Rollenverteilung hatten die Redakteure nur darauf zu achten, dass einer den Kaspar gab (Hellmuth Karasek) und eine die strenge Großmutter (Sigrid Löffler). Für die Rolle des Krokodils konnte es nur einen geben: Reich-Ranicki. Ist es ihm zu verdenken, wenn er seither meint, Fernsehen sei vor allem dann gutes Fernsehen, wenn eine Kamera auf ihn gerichtet ist?
Im Grunde hat das ZDF mit dieser allzu späten Ehrung ein Eigentor geschossen. "Das literarische Quartett" wurde schon vor sieben Jahren abgeschafft, weil die Sendung mit ihren Protagonisten alt geworden war. Die Rituale waren erstarrt, es wurde – vor allem nach dem Abgang von Sigrid Löffler - nicht mehr wirklich um Literatur gestritten, die sogenannte Diskussion reduzierte sich meist darauf, dass Karasek und Reich-Ranicki um die Wette Anekdoten erzählten. Und Reich-Ranickis Verdienste um das Fernsehen hatten sich in den vergangenen Jahren auf enige wenige eher anekdotische Auftritte reduziert.
Verblödet, kulturlos, lächerlich
Das Ärgerlichste an Reich-Ranickis Kulturkritik sind jedoch seine Adepten, die nun auf den Zug aufspringen und en bloc auf das schrecklich triviale Fernsehen einprügeln. Allen voran Elke Heidenreich, die sich offenbar immer mehr als rechtmäßige Nachfolgerin Reich-Ranickis stilisiert und um das Überleben ihrer Sendung "Lesen!" kämpft. Sie gab am Sonntagabend im Deutschlandradio Kultur zwar zu, dass sie kaum noch Fernsehen gucke, nahm sich aber trotzdem das Recht heraus, darüber zu schimpfen, "wie jämmerlich unser Fernsehen ist, wie arm, wie verblödet, wie kulturlos, wie lächerlich". Beurteilt hat sie die ausgezeichneten Filme nach eigenem Bekunden nach den "Häppchen", die sie zu sehen bekam. Prima, dann können wir demnächst Literatur ja nach den Klappentexten beurteilen (die mit Vorliebe Elke Heidenreich zitieren). Im Interview mit "Fazit" schaffte Heidenreich tatsächlich den Bogen von der "hirnlosen" Fernsehpreisverleihung zur Bücherverbrennung der Nazis. Chapeau.
Nein, diese Pauschalkritik wird das Fernsehen nicht besser machen. Man könnte über vieles diskutieren, die Quotenfixiertheit der Öffentlich-Rechtlichen zum Beispiel oder die Renditeerwartungen der Privatsender. Doch man muss das Medium schon ernst nehmen, wenn man es besser machen will. Und man sollte dabei auch nicht vergessen, dass es für die meisten Zuschauer in erster Linie ein Unterhaltungsmedium ist. Doch der eigentliche Skandal ist, dass eine sogenannte Kultursendung wie "Fazit" sich nicht entblödet, nach Elke Heidenreich noch einen Filmkritiker einzuladen, der offenbar auch nur wenig mehr vom Fernsehen versteht und - obwohl er es besser wissen müsste - behauptet: "Richtig pointierte Fernsehkritik gibt es eigentlich nicht mehr." Touché, Herr Schnelle, auch das Kulturradio hält es offenbar nicht für nötig, sich mit dem Medium Fernsehen noch seriös auseinanderzusetzen (zwar hat Schnelle recht damit, dass sich die Fernsehkritik in vielen kleineren Zeitungen inzwischen leider auf freundliche Vorankündigungen und Berichte über die Quoten vom Vortag reduziert, doch halten einige große überregionale Blätter und vor allem zwei kleine feine Fachpublikationen die Fahne der Fernsehkritik immer noch hoch).
Und so wird die Debatte, die Reich-Ranicki möglicherweise auslösen wollte, wieder einmal versanden. Weil es einfacher ist, das Medium Fernsehen pauschal zu verurteilen, statt genau hinzugucken, was sich wo tut. Weil die uralte Debatte E- versus U-Kultur, die Gottschalk und Reich-Ranicki am Freitag voraussichtlich führen werden, nichts bringt - außer vielleicht Quoten. Und weil die Verantwortlichen die Pauschalkritik leichter ignorieren können als eine fundierte Kritik. Schon zeigt WDR-Intendantin Monika Piel mit spitzem Finger auf das "kommerzielle Fernsehen", das eine Qualitätsdiskussion ihrer Meinung nach dringend nötig hätte. WDR und ARD sieht sie natürlich "nicht in der Kritik". Und auch der von den Rendite-Erwartungen der Investoren gebeutelte ProSieben-Senderchef Andreas Bartl sieht "keinen Handlungsbedarf". Sein Sender biete "genügend Qualität und genügend Populäres" sagte er der "Süddeutschen Zeitung".
Peinlicher Auftritt
Auch die Veranstalter des Fernsehpreises werden womöglich den Kopf nur ein paar Wochen lang einziehen und im nächsten Jahr weitermachen wie gehabt. Dabei wäre es gewiss der Mühe wert, darüber nachzudenken, wie man all die guten Sendungen, die man da auszeichnet, besser präsentieren könnte. Nicht nur Reich-Ranicki wird angesichts des peinlich unkomischen Auftritts der Fernsehköche Johann Lafer und Horst Lichter (der in der ZDF-Sendung am Sonntagabend zum Glück rausgeschnitten wurde) gedacht haben: "Köche, nichts als Köche. Es war schrecklich!" Stellenweise sind die Fernsehpreis-Verleihungen eben immer noch wie Kasperle-Theater. TV-Kritikerin Klaudia Wick, die auch Mitglied der Jury des Deutschen Fernsehpreises ist, würde sich wünschen, dass "das, was seriös gemeint ist, auch seriös präsentiert wird". Das kann doch eigentlich nicht so schwer sein.
Der Mann des Abends aber war Thomas Gottschalk. Er zeigte, dass er, wenn er wirklich gefordert ist, immer noch zu Hochform auflaufen kann. Mit feinen ironischen Spitzen wie der Aufforderung an den Schauspieler Edgar Selge, seinem Schwiegervater Martin Walser auszurichten, er, Gottschalk, habe "Tod eines Kritikers" gern gelesen, machte der Moderator den Abend auch nach Reich-Ranickis Auftritt zu einem Vergnügen für Anhänger von E- und U-Kultur. Man musste nur genau hinhören.
Der Artikel ist urprünglich in der Ausgabe 82/08 des Fachdienstes epd medien erschienen.