Sie trat unerschrocken für eine politische Theologie ein - und stellte sich damit oft quer zu ihrer Kirche: die evangelische Theologin Dorothee Sölle (1929-2003). Die zierliche und lebensbejahende Frau kämpfte für Arme und Unterdrückte, gegen Militarismus und Kapitalismus und wurde zu einer der bekanntesten Theologinnen des 20. Jahrhunderts. Glauben und politisches Handeln gehörten für sie zusammen. "Theologisches Nachdenken ohne politische Konsequenzen kommt einer Heuchelei gleich. Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein", schrieb Sölle in ihrem Buch "Gegenwind" (1995). Vor 80 Jahren, am 30. September 1929, wurde sie in Köln geboren.
[linkbox:nid=3408;title=Mehr zum Thema]
Dorothee Sölle studierte Theologie, Philosophie und Literaturwissenschaft in Köln, Freiburg und Göttingen und wurde 1971 habilitiert. Ein Lehrstuhl in Deutschland blieb der Schwester des berühmten Historikers Thomas Nipperdey allerdings verwehrt. Zu krass wich sie - immer politisch links - von Positionen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ab. So reagierte die EKD empört, als Sölle den westlichen Kirchen 1983 auf der Vollversammlung des Weltkirchenrats in Vancouver "Militarismus" und eine "Apartheidstheologie" gegenüber den Entwicklungsländern vorwarf. Die Amtskirche distanzierte sich. Professorin war Sölle inzwischen aber doch geworden - in den USA. Von 1975 bis 1987 lehrte sie Systematische Theologie in New York.
"Politisches Nachtgebet"
Auch das von ihr initiierte "Politische Nachtgebet", das vor allem junge Leute anzog, war umstritten. Erstmals wurde es im September 1968 auf dem Katholikentag in Essen gefeiert, danach bis 1972 monatlich in der Kölner Antoniterkirche und immer wieder unter großem Zulauf auf evangelischen Kirchentagen. Die Form hatte sich aus ökumenischen Andachten in Köln entwickelt: Die Nachtgebete waren eine Mischung aus traditionellen liturgischen Elementen, Gebet und Gesang sowie politischer Information und Diskussion. Sölles meditativen Texte seien für "mehr als eine Generation christlicher Beter" von großer Bedeutung, würdigte der rheinische Präses Nikolaus Schneider die Theologin.
Inspiriert von lateinamerikanischen Befreiungstheologen und dem Schriftsteller Ernesto Cardenal reiste Sölle auf Einladung der Sandinistischen Bewegung 1984 nach Nicaragua, wo sie mit einer Friedensgruppe aus den USA die Wahlen beobachtete. Später besuchte sie auch El Salvador. Als prominenteste Aktivistin der Friedensbewegung wandte sich Sölle in den 70er Jahren gegen den Vietnamkrieg sowie in den 80ern gegen den NATO-Doppelbeschluss zur Nachrüstung. Nach Sitzblockaden vor den Nato-Mittelstreckenraketen in Mutlangen wurden sie und andere Demonstranten wegen versuchter Nötigung verurteilt, später wurden diese Urteile teils wieder aufgehoben. Aufgrund ihres Muts verkörpert Sölle für viele bis heute das "politische Gewissen des Protestantismus", so die Hamburger Bischöfin Maria Jepsen.
In ihren theologischen Werken vertrat Sölle eine Theologie der radikalen Diesseitigkeit und eine Entmythologisierung der Bibel. Gott sei kein "allmächtiger Vater", sondern auf die Menschen und ihr Handeln angewiesen, erläuterte sie in ihrem Buch "Zur Umkehr fähig". Die Mutter von vier Töchtern und Streiterin für die feministische Theologie wehrte sich dagegen, Leid als "gottgegeben" hinzunehmen. Aufgabe der Christen sei es, aus dem Leiden Kraft zu ziehen und die Welt zum Guten zu verändern.
Mit Fulbert Steffensky verheiratet
Dass Sölle Beten und Tun als Einheit begriff, kommt auch in ihren Gedichten zum Ausdruck. "Du hast mich geträumt gott / wie ich den aufrechten gang übe", schrieb sie in "loben ohne lügen", ihrem letzten Lyrikband. Freunden und Weggefährten galt sie als "Gotteslehrerin" und "politische Mystikerin". Mehr als 40 Bücher zählt ihre Veröffentlichungsliste. Zu den bekanntesten gehören "Politische Theologie" (1971), "Zivil und Ungehorsam" (1990) sowie "Mystik und Widerstand: du stilles Geschrei" (1997). Eine Reihe von Bänden gab sie zudem mit ihrem zweiten Ehemann, dem Hamburger Theologen und früheren Benediktinermönch Fulbert Steffensky, heraus.
In der evangelischen Kirche hat die unbequeme Theologin, die am 27. April 2003 in Göppingen starb, deutliche Spuren hinterlassen. So würdigte der frühere EKD-Ratsvorsitzende Manfred Kock bereits kurz nach ihrem Tod die "atemberaubende Radikalität", mit der Dorothee Sölle die Nachfolge Jesu gelebt habe. Sie sei prägend für ihn selbst gewesen, so Kock - und prägend auch für den Weg der Kirche.
Eine Würdigung von Dorothee Sölle durch den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Nikolaus Schneider, sowie Hinweise zu Gedenkveranstaltungen lesen Sie hier.