Wählen gehen! Auch ohne Knöllchen-Drohung
"Wer nicht zur Wahl geht, sollte 50 Euro zahlen!" Die Europawahl war gerade abgeschlossen - mit einer Beteiligung von nur 43,3 Prozent -, da machte ein Kollege aus dem Bundestag diesen Vorschlag. Und er fügte hinzu: "Wir Politiker müssen im Parlament abstimmen - das kann man auch von den Wählern verlangen." Für diesen ungewöhnlichen Vorschlag erntete er Kritik, ja sogar Häme: Jetzt kriegen die ihre Leute nur noch bei Strafandrohung an die Wahlurne.
22.09.2009
Von Hermann Gröhe

Es sind nicht nur unsere Nachbarn in Belgien und Luxemburg, die eine Wahlpflicht kennen. Auch Griechenland, dessen Geschichte wir wesentliche Impulse für die "Herrschaft des Volkes" und deren Bezeichnung als Demokratie verdanken, kennt eine derartige Pflicht. Anders als in Belgien und Luxemburg gilt in Griechenland auch: Wer nicht zur Wahl geht, muss zahlen. Und nur wer regelmäßig wählt, bekommt einen Reisepass. Doch der Erfolg ist eher bescheiden: 52 Prozent der Griechen nahmen an der Europawahl teil. Wählen gehen, sonst gibt es ein "Knöllchen" - dies ist wohl auch kein Erfolgskonzept.

Freiheiten wollen in Anspruch genommen werden

Doch auch wer - wie ich - es ablehnt, das Wahlrecht zu einer Wahlpflicht zu machen, kann sehr wohl von einer moralischen Pflicht der Wählerinnen und Wähler sprechen. Denn viele Grundrechte entfalten sich erst, wenn die Freiheiten, die sie gewährleisten, mit Leben gefüllt werden. Was nützten Meinungs-, Religions- oder Vereinigungsfreiheit, wenn Menschen sie nicht beherzt in Anspruch nähmen? Und was wäre die Freiheit von Medien, Kunst und Wissenschaft ohne ihre verantwortungsvolle Betätigung?

Auch das Wahlrecht lebt davon, dass Menschen die Chance annehmen, mitzuentscheiden und Mitverantwortung zu übernehmen. Das schließt die bewusste Enthaltung, von der Wahlforscher zunehmend sprechen, zwar ein, verlangt aber, sich dann über die "Risiken und Nebenwirkungen" Rechenschaft abzulegen. Denn auch wer der Wahl fernbleibt, entscheidet mit, nimmt Einfluss auf das Ergebnis und macht bei einer niedrigen Beteiligung extremistischen Gruppen den Wahlerfolg leichter.

Parteienschelte - legitim oder nur bequem?

Sicherlich: Die Parteien müssen sich anstrengen, Menschen mit ihren Personen, Programmen und ihrem Tun zu überzeugen. Aber so manche wohlfeile Parteienschelte taugt auch gut dazu, die eigene Bequemlichkeit zu bemänteln. Und so wird dann mal den Parteien "ständiges Gezänk", mal "fehlende Unterscheidbarkeit" vorgeworfen. Dabei lebt Demokratie vom zugespitzten Meinungsstreit und von der Fähigkeit, auch in schwierigen Fragen einen Kompromiss zu finden. Die katholische Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland betonen zudem in ihrem Wort "Demokratie braucht Tugenden": "Es sind die Wähler, die die Spielräume der Parteien definieren. Kurzsichtige Wählerinnen und Wähler fördern kurzsichtige Politik." Und wem all diese Politikerinnen und Politiker nicht gefallen, der ist aufgefordert, selbst aktiv zu werden. Keine demokratische Partei ist wegen Überfüllung geschlossen.

Das Wahlrecht hat eindeutig mehr Wertschätzung verdient. Ich denke an die langen Schlangen von Südafrikanern, die bei größter Hitze an den Wahllokalen anstehen. Ihren Vorfahren und vielen von ihnen selbst wurde jahrzehntelang aufgrund ihrer Hautfarbe das Wahlrecht verweigert. Und ich denke an die Rufe der Teheraner Demonstranten: "Wo ist meine Stimme geblieben?" Wir sollten als Bürgerinnen und Bürger stolz auf unser Bürgerrecht sein und nicht achtlos auf es verzichten.


Hermann Gröhe ist Staatsminister im Kanzleramt und Herausgeber des Magazins "chrismon", in dem der obige Text erschienen ist. Er ist CDU-Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Neuss I.