Hunderte Wellensittiche in der Wohnung
Immer mehr Menschen in Deutschland horten Tiere und lassen sie verwahrlosen. Allein seit Jahresbeginn wurden 30 neue Fälle gemeldet. Fachleute sprechen vom "animal hoarding"-Syndrom.
22.09.2009
Von Barbara Driessen

In der 60 Quadratmeter großen Wohnung in Berlin zwitscherte und lärmte es aus allen Ecken: Mehr als 500 Wellensittiche flatterten herum, als die Behörden aufmerksam wurden. Sie saßen auf Ästen, die unter der Decke angebracht worden waren, oder hockten in kleinen Nestern und brüteten Eier aus. Der Fußboden: bedeckt mit Federn, Futterresten und Exkrementen. Schon lange war dem 60-jährigen Rentner die Kontrolle über seine Vögel entglitten, sie vermehrten sich in einem fort. Auch gegen den Dreck und Gestank kam er nicht mehr an. Er leidet am sogenannten «animal hoarding»-Syndrom, zu deutsch Tierhortungs-Syndrom.

Was bis vor kurzem nur aus den USA bekannt war, wird nun auch in Deutschland immer öfter zu einem Problem: "Die Tendenz ist deutlich steigend", sagt Tierärztin Elke Deininger von der Akademie für Tierschutz des Deutschen Tierschutzbundes in Neubiberg bei München. "Allein seit Anfang des Jahres sind uns 30 neue Fälle gemeldet worden." Deininger beschäftigt sich seit 2004 intensiv mit dem Phänomen Tierhortung. Denn damals wurde der bislang schlimmste Fall in Deutschland bekannt: Es ging um 500 Hängebauchschweine, 300 Pferde und Hunderte von Ziegen, Schafen, Lamas und Hühnern, die von einer Unternehmerfamilie auf einem Hof in Hessen gehalten wurden.

Auf engstem Raum

Mutter und Tochter waren leidenschaftliche Tiersammlerinnen, ließen die Tiere aber völlig verwahrlosen. Sie waren auf engstem Raum untergebracht und wurden nicht richtig gefüttert. Da sie nicht nach Geschlechtern getrennt waren, vermehrten sie sich unkontrolliert. Neugeborene Fohlen und Ferkel wurden von erwachsenen Tieren oft totgetrampelt und blieben im Schlamm liegen - ein typischer Fall von animal hoarding. Immer verberge sich dahinter auch ein menschliches Problem, sagt Elke Deininger: "Betroffene haben Löcher in der Seele, die mit Tieren gestopft werden sollen, aber sie werden den Tieren dabei nicht gerecht."

Tierhortung gilt als eine psychologische Störung, die in Deutschland jedoch nicht wissenschaftlich anerkannt ist. Studien aus den USA zeigen, dass drei Viertel der Betroffenen Frauen sind. Jede zweite von ihnen lebt allein. "Es müssen in der Regel mehrere Faktoren zusammenkommen", erläutert der Hamburger Psychotherapeut Elmar Basse. "Dazu gehören typischerweise eine besonders ausgeprägte Tierliebe und oft auch eine menschliche Vereinsamung. Die Energie kann sich dann mehr und mehr auf die Tiere konzentrieren, so aber, dass dem Betroffenen das Ganze mehr und mehr über den Kopf wächst." Es falle ihm schwer, Grenzen zu setzen, so dass sich die Sammelleidenschaft verselbstständige.

Amtstierarzt wird eingeschaltet

Dass der krankhafte Tiersammler dabei nicht erkenne, wie schlecht es den Tieren gehe, sei ebenfalls ganz typisch, meint Basse: "Die Wahrnehmung der eigenen Umgebung erfolgt oft nur noch durch einen recht engen Filter. Unliebsame Aspekte der Realität werden ausgeblendet - denn wenn er sie wahrnehmen würde, müsste er etwas an seinem Verhalten ändern." Wird dem Tierschutzverein oder der Polizei ein Fall von Tierhortung gemeldet, so schaltet sich meist das zuständige Veterinäramt ein, das die Tiere beschlagnahmen lassen kann. «Der Amtstierarzt kann dann auch ein Haltungsverbot veranlassen, das jedoch noch gerichtlich bestätigt werden muss», erläutert Tierärztin Deininger.

Auf der Website des Deutschen Tierschutzbundes ist eine Checkliste zu finden, mit der überprüft werden kann, ob ein Fall von Tierhortung vorliegt. Elke Deininger setzt sich für eine engere Zusammenarbeit von Behörden, Juristen, Sozialarbeitern und Psychologen ein. So könnten völlig verwahrloste Tiere schneller in Tierheimen untergebracht und die betroffenen Menschen besser unterstützt werden: "Denn uns kann es nicht nur um die Tiere gehen. Wir müssen auch den Menschen helfen."

epd