Hildegard im Kino: Hellwach, streitbar und gerissen
In "Vision", dem neuen Film von Margarethe von Trotta, ist die berühmteste Mystikerin des Mittelalters, Hildegard von Bingen, alles andere als ­eine esoterische Kräuternonne.
21.09.2009
Ariane Heimbach, chrismon

Manchmal ist nur das Kratzen auf Pergament zu hören, unterbrochen vom Monolog einer Nonne, die ihrem Glaubensbruder ihre Gedanken in die Feder diktiert. Immer wieder kehrt "Vision", der neue Film von Margarethe von Trotta, zu dieser Szene zurück, die sich vor über 900 Jahren fast täglich wiederholt haben muss. Eine Frau erzählt, ein Mann hört ihr zu. Diskutiert mit ihr, korrigiert ihre Grammatik und schreibt alles auf. Tausende Stunden müssen die beiden so gesessen haben, im Winter bei Kerzenschein, im Sommer an schmalen Fenstern in den Räumen des Klosters auf dem Rupertsberg. In diesen Momenten der stillen Eintracht zwischen Hildegard von Bingen (Barbara Sukowa) und ihrem besten Freund und Sekretär, Mönch Volmar (Heino Ferch), kommt der Film seinen Figuren ganz nah.


In ihrer selbstgenügsamen, platonischen Zweisamkeit blitzt etwas auf, das wir heute vielleicht Glück nennen würden. Es sind mitunter kühne Gedanken über Gott und die Welt, die Hildegard von Bingen formuliert. Oder einfach nur feine Beobachtungen der Natur in all ihren Facetten – über das Leben von Fischen bis hin zur Heilkraft von Kräutern, Getreide oder Steinen. Sie interpretiert die Bibel, bietet Lebensberatung an und macht sich Gedanken über Ästhetik. Für eine Frau und Nonne im 12. Jahrhundert war das alles höchst ungewöhnlich, auch wenn die Frauenklöster in dieser Zeit boomten und sich ungeahnte intellektuelle Freiheiten für die meist adligen Frauen dort eröffneten.


Doch keine andere hat ein so umfangreiches Werk hinterlassen. Tatsächlich ist nur durch einen genialen Schachzug zu erklären, dass Hildegard von Bingen ihre Ideen publizieren konnte: Sie sah sich als "Posaune Gottes". Als neutrale Botin von Ansichten, die ihr vom Himmel gesandt wurden. Nicht im Traum empfange sie diese Visionen, sagte sie, nicht im Zustand ekstatischer Verzückung, wie es zahlreiche christliche Mystiker vor und nach ihr beschrieben haben, sondern "hellwach".


Und wenn die Schauspielerin Barbara Sukowa das ernst und fast schüchtern erklärt, muss man ihr einfach glauben. Hildegard von Bingen, das macht der Film von Anfang an klar, war nicht die esoterische Kräuternonne, als die sie in den vergangenen Jahren populär wurde. Vielmehr zeigt Margarethe von Trotta sie als gewiefte Unternehmerin mit einer sozialen Ader. Als sanfte Rebellin, die ihre Ziele ausgesprochen geschickt umzusetzen weiß. Die mit hochrangigen Politikern und geistlichen Würdenträgern korrespondiert und es schafft, die wichtigsten Autoritäten auf ihre Seite zu ziehen – bis hin zum Papst, der damals Eugen III. heißt und der hartnäckigen Ordensschwester auf einer Synode in Trier den Freibrief für die Veröffentlichung ihrer Visionen ausstellt.

"Streitbare Frauen"

 


Wenn sie mit ihren Plänen nicht weiterkommt, kennt sie noch andere Strategien. Seit ihrem achten Lebensjahr, so erzählt der Film, lebt sie mit anderen Nonnen in einem überwiegend männlichen Kloster des Benediktinerordens. Sie ist Anfang 50 und eine berühmte Magistra, als sie ein eigenes Frauenkloster gründen will. Der Abt verweigert ihr den Wunsch. Da wird sie, wie so oft in solchen Situationen, krank. Sie scheint schon im Sterben zu liegen, als der Abt endlich seine Erlaubnis gibt – danach wird sie noch drei Jahrzehnte leben.


Dass ausgerechnet Margarethe von Trotta diesen Film gedreht hat, zu dem sie auch das Drehbuch schrieb, ist nicht erstaunlich. Fast alle ihre Kinofilme, viele davon preisgekrönt, handeln von ungewöhnlichen und oft streitbaren Frauen: das RAF-Drama "Die bleierne Zeit" (1981) über die Schwestern Gudrun und Christiane Ensslin; das Filmporträt "Rosa Luxemburg" (1985), ebenfalls mit Barbara Sukowa in der Hauptrolle; oder der NS-Film "Rosenstraße" (2003) über den Kampf einiger nicht jüdischer Frauen um die Freilassung ihrer jüdischen Ehemänner in Berlin 1943. Doch diese Filme haben stets im 20. Jahrhundert gespielt, in sozialen und politischen Verhältnissen, die die heute 67-jährige Regisseurin prägten. Warum geht sie also plötzlich so weit in die Vergangenheit zurück?


Tatsächlich, sagt Margarethe von Trotta, habe sie den Film schon vor über zwanzig Jahren drehen wollen. Das war die Zeit, in der feministische Historikerinnen wie Gerda Lerner die Benediktinerin als Vorläuferin der Emanzipation und theologische Avantgardistin entdeckten. Literaturwissenschaftler analysierten ihre Gedichte, die Hildegard-Biografin Charlotte Kerner beschrieb sie als die "große Rationale" unter den Mystikerinnen. Und zugleich wuchs mit der neuen Ökobewegung auch das Interesse an der "ganzheitlichen
Hildegard-Medizin".


Doch Margarethe von Trotta sah damals keine Chance für den Stoff im Kino. Mitte der 80er Jahre steckte der deutsche Autorenfilm in einer Krise. In den Städten entstanden immer mehr Multiplex-Kinos, junges Publikum strömte in die Säle, die deutsche Komödie feierte Erfolge. "Ich dachte, einen Nonnenfilm finanziert mir niemand", sagt die Regisseurin. Stattdessen verfilmte sie das Leben der Kommunistin Rosa Luxemburg, einer Frau, von der sie heute sagt, dass "sie auch eine Vision hatte, einen Glauben, für den sie sich eingesetzt hat". Als Trotta dann vor drei Jahren einen neuen Kinofilm plante, hatte sie eigentlich eine ganz andere Frauenfigur im Sinn: die Philosophin Hannah Arendt. Doch ihr Produzent winkte ab: "Eine Intellektuelle? Wer interessiert sich schon dafür. Aber du hast mir doch mal von Hildegard erzählt . . . "

"Die Nonne als Kultfigur"

 


Inzwischen ist die talentierte Nonne zur Kultfigur avanciert, ihr Name eine Marke, die Qualität garantiert. Biobäcker verkaufen Apfelbrot nach einem alten Hildegard- Rezept, Esoterikläden Heilsteine der Hildegard, Ernährungsberater bieten Fastenkurse in Hildegard-Diätetik. Über 50 Titel jüngeren Datums führt der Internetbuchhandel Amazon unter ihrem Namen auf: von der Hildegard-Apotheke und dem Hildegard-Kochbuch bis zum Gärtnern mit Hildegard.


Und auch das Kino scheint reif für Hildegard zu sein. Charismatische Mönche und Spiritualität sind auf der Leinwand gefragt: 2003 zog die deutsche Produktion "Luther" Millionen Zuschauer allein in Deutschland an. Und 2006 wurde ausgerechnet "Die große Stille", ein fast dreistündiger Dokumentarfilm über den Alltag in einem Karthäuserkloster, ein Kassenerfolg. "Vision" ist zwar längst nicht so kontemplativ wie die Klosterdoku, doch Tempo und rasante Schnitte wie im "Luther"-Film findet man hier nicht. Ein leises Kammerspiel mit langen Einstellungen und Nahaufnahmen der Frauengesichter, die wie aus engen Burgfenstern aus ihren Schleiern blicken. Den historischen Kontext blendet der Film weitgehend aus. Trotta konzentriert sich auf "die Beziehungen zwischen den Menschen und ihre Widersprüche". Nur so, das weiß sie, können fast 1000 Jahre alte Figuren auf der Leinwand lebendig werden.


Eine Gratwanderung – denn was wissen wir wirklich über die Gefühle der Menschen damals? Wie wird man einer Person gerecht, die längst zur Projektionsfläche "für die Sehnsüchte und Hoffnungen der Moderne" geworden ist, wie die Hildegard-Biografin Barbara Beuys schreibt. "Zunächst einmal durch Lesen, Lesen, Lesen", sagt Trotta. Anderthalb Jahre habe sie an dem Drehbuch gearbeitet, die Vita, das Visionsbuch und die Briefe von Hildegard durchforstet, außerdem eine Schwester aus der Abtei St. Hildegard und eine Mediävistin zurate gezogen. "Die hat mir auch erzählt, dass sich die Menschen damals bei Vertragsabschlüssen auf den Mund küssten", sagt sie. Dabei würden wir heute doch immer denken, dass sich die Geistlichen nicht berührten. Trottas Hildegard von Bingen lässt sich berühren. Sie brennt vor Eifersucht, als ihre Lieblingsnovizin sie verlässt, und verzeiht sich später diese Gefühle nicht. Sie schreibt und komponiert rund siebzig Gesänge und ein Musikdrama – ein sinnenfrohes Spektakel, bei dessen Aufführung die mitwirkenden Schwestern offene Haare und kostbaren Schmuck tragen.

Die Nonnen dürfen schön sein. Trotta entwirft damit auch ein sehr persönliches Bild ihrer Hauptfigur. So genau sich die Regisseurin auch an die überlieferten Fakten hält, beleuchtet sie doch nur jene Seiten des Multitalents Hildegard, dir ihr etwas bedeuten. Ihre vielleicht wichtigste Erkenntnis: Die Benediktinerin propagierte eine neue Frömmigkeit, die sich von der mittelalterlichen Vorstellung eines strafenden Herrscher-Gottes abkehrt und an seine Stelle einen mitleidenden, ja mütterlichen Gott setzte, für den sich niemand geißeln muss, um seine Gunst zu erlangen. "Hildegard war gegen jede Art von Selbstkasteiung, also auch gegen eine übertriebene Askese", sagt Trotta. "Gott liebt die Schönheit, schreibt sie, und er will, dass wir ihm freudig dienen. Das hat mir gefallen."


Mit offenen Sinnen dem Körper und der Natur begegnen – die moderne Auffassung erstaunt vielleicht am meisten an dieser mutigen Frau. Einmal, beim Diktat und Gespräch mit Mönch Volmar, geht es um Sexualität. Und nebenbei auch um das Glück, die richtigenWorte dafür zu finden. Und man meint Barbara Sukowa und Heino Ferch ihr Vergnügen in dieser Szene anzusehen, wenn die Nonne beherzt über "den Stamm und die zwei zeltartigen Gebilde" des männlichen Geschlechts spricht. "Mit meinem Gott überspringe ich Mauern", heißt es in einem Psalm, den Hildegard oft gebetet haben soll. Der Satz fehlt eigentlich im Film. Besser lässt sie sich nicht charakterisieren.

Der Artikel von Ariane Heimbach ist in der September-Ausgabe des Magazons "chrismon plus" erschienen.