Die Wirtschaftskrise füllt die Kirchen an der Wall Street
Vor einem Jahr begann mit dem Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers die weltwelte Wirtschafts- und Finanzkrise. Allein im Börsengeschäft der Vereinigten Staaten haben seither rund 200.000 Menschen ihren Job verloren. Die Krise verschafft den Kirchen rund um die New Yorker Wall Street unerwarteten Zulauf.
21.09.2009
Von Jan Thomas Otte

Die Glocken bimmeln an der Wall Street in Krisenzeiten genauso wie im Boom. Aber es sind nicht die bei der Börseneröffnung am Morgen. Es schallt von der Trinity Kirche, direkt gegenüber der Wall Street, zwischen hupenden Taxis und lärmenden Klimaanlagen der Wolkenkratzer. Es ist schwül am größten Handelsplatz der USA. Dem entkommen christliche Manager ins kühlere Kirchenschiff und drücken sich hastig in die Kirchenbank, wie sie es vom Börsenparkett gewohnt sind.

"Keine Zeit, aber Pünktlichkeit ist alles", sagt ein gestresster Anzugträger an der Ampel und kramt in seiner Aktentasche nach dem Blackberry. Dreimal mehr Besucher kommen im Schnitt zum Beten, verglichen mit dem Vorjahr, sagt Jim Cooper, Pfarrer an der Trinity Church. Sie schöpfen Vertrauen im Glauben und wollen für die Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter und Kunden sensibler sein.

"Es gibt nichts zum Spekulieren"

Matthew Jinkins fällt das Runterkommen sichtlich schwer: "Ich bin froh, dass es da drüben nichts zum Spekulieren gibt", sagt er. Das Thema Gier ist für den Banker momentan ein Tabu, denn Jinkins wurde bereits Weihnachten gekündigt. Seit Beginn der Krise haben nach Schätzungen des US-Magazins Fortune rund 200.000 Menschen im Börsengeschäft in den USA ihre Arbeit verloren, 52.000 davon allein bei der Universalbank Citigroup. Mit der Kampagne "Entdecke! Kirche für diese Zeiten" wollen New Yorker Kirchen ins Bewusstsein rufen, dass Gott Trost schenken kann - nicht nur in Krisenzeiten.

"Manche Banker machen so weiter wie bisher, denken nur an sich", sagt Jinkins. Mit ihm in der Kirche sitzt einer seiner einstigen Kollegen. Ob im Job oder beim Suchen neuer Werte: Beide Investment-Banker brauchen neue Sicherheiten, suchen Trost. Andere wollen einfach nur spontan ihre Ratlosigkeit im Gebet vor Gott äußern. Einige Manager zeigten Reue, andere wiederum seien bloß Mitläufer, sagt Jinkins: "Das ist nicht erst seit der Krise so." Vor allem im mittleren Management sei der Konkurrenzkampf um Beförderungen und Boni am größten: "Wenn es dann nicht klappt, ist man gegenüber Gottes Willen offener", erklärt der 29-Jährige das "up and down" im Glaubensleben wie an der Börse.

Ob Andachten, Glaubenskurse oder Seelsorge - Wirtschaftsblätter wie das Wall Street Journal berichten gern über Pfarrer, die sich um gescholtene Manager kümmern. Seelsorge und der Blick auf den Einzelnen sei für die New Yorker Kirchen im Moment wichtiger als Predigten. "Auch Manager sind Menschen", sagt Pfarrer Cooper. Man teile aber die sachliche Kritik an den Wall-Street-Bankern. Fehler zu beschönigen, sei nicht Sache der Kirche. Sie stehe traditionell auf der Seite der Schwachen. "Manche Kollegen werden sich ihrer Schuld, der Verantwortung, erst jetzt bewusst", pflichtet Ex-Banker Jinkins bei.

Christlicher Investment-Chef

Nach der Mittagsandacht managen die Banker weiter das ihnen anvertraute Geld. Beim größten Verwalter von Privatvermögen weltweit, im Hause Blackrock, sind das rund drei Billionen Dollar Kundenvermögen. Investment-Chef Robert Doll ist ein überzeugter Christ. Trotz heftiger Kurseinbrüche und Stellenabbau hat er die Krise ohne staatliche Hilfe gemeistert.

Dolls Appelle in der Krise lauteten immer wieder: "Mehr Demut! Nicht auf Luftschlösser spekulieren! Ganz Manager und ganz Christ!". Das habe er seinen Mitarbeitern auch nach der letzten Krise um den 11. September 2001 geraten, sagt er. Doll will seinen Worten Taten folgen lassen, den Bedenken seiner Mitarbeiter und Kunden im Investmentbanking besser zuzuhören. "Das Lesen der Bibel, besonders Jesus Bergpredigt, macht mich einfühlsamer", sagt Doll.

Privat leitet er den Chor seiner Kirchengemeinde und unterstützt deren Neubau. Nach eigenen Angaben hat er seine Bonuszahlungen zum größten Teil dafür investiert. Im Jahr 2008 waren das laut dem US-Magazin Forbes noch 20 Millionen Dollar. Für ihn stehe der Glaube über dem Geld, sagt Doll. Doch seine Mitarbeiter müssten jeder für sich entscheiden.

epd