Frage: Im Sommer vor drei Jahren wurde mit dem Impulspapier "Kirche der Freiheit" der Reformprozess der EKD angestoßen. Wie viel ist inzwischen umgesetzt?
Bischof Wolfgang Huber: Wir ziehen jetzt mit der Zukunftswerkstatt in Kassel eine Zwischenbilanz. Wir haben erlebt, dass viele Multiplikatoren in Gemeinden, Regionen und Landeskirchen sehr kräftig mitgehen. In dem Reformprozess ist ja nicht die EKD-Ebene der dominierende Akteur. Vielmehr haben wir Reformimpulse aufgenommen und gebündelt, die aus den Landeskirchen kamen, und haben sie wieder in die Landeskirchen zurückgespiegelt.
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Frage: Was wird bei der Zukunftswerkstatt geschehen?
Huber: Wir werden in Kassel Beispiele guter Praxis vorstellen und auch auszeichnen, indem wir die Verleihung verschiedener Preise aus dem Bereich der evangelischen Kirche in Kassel bündeln und festlich begehen. Außerdem arbeiten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Schlüsselthemen des Reformprozesses weiter. Das findet in den Werkstätten statt. Und es werden zwölf neue Initiativen von Kassel ausgehen. Die Zukunftswerkstatt wird also eine sehr praktische Veranstaltung, aber sie ist gleichzeitig auch ein Signal dafür, dass "Kirche im Aufbruch" keine schön klingende Formel, sondern inzwischen ein Stück unserer kirchlichen Realität ist.
Frage: Mit dem EKD-Papier "Kirche der Freiheit" haben sich Landeskirchen und Kirchenkreise intensiv beschäftigt. Aber ist der Reformprozess auch in den Gemeinden angekommen?
Huber: Es gibt in Deutschland etwa 20.000 Gemeinden in den Gliedkirchen der EKD. In vielen von ihnen ist der Prozess angekommen. Das gelingt insbesondere in den Landeskirchen sehr gut, die nicht nur eins zu eins auf "Kirche der Freiheit" bezogen sind, sondern die den Reformprozess für sich angepasst beziehungsweise eigene landeskirchliche Perspektivkonzepte entwickelt haben, die ein Stück näher an der gemeindlichen Realität sind.
Frage: Welche Rolle spielt dabei die EKD?
Huber: Auf der Ebene der EKD verstehen wir unsere Aufgabe so, dass wir für bestimmte Themen zusätzliche Ermutigungen und Impulse vermitteln wollen, und zwar auf den drei Feldern, die nach dem Wunsch der Kirchenkonferenz jetzt Schwerpunktthemen in der EKD sind: erstens Qualitätsförderung im Bereich Gottesdienst, Liturgie und Kasualien, zweitens Mission in der Region und drittens Führen und Leiten. Diese Themen werden auch verstärkt in Gemeinden, in Kreissynoden und Gemeindekirchenräten erörtert. Da bewegt sich viel.
Frage: Hartnäckig hält sich der Vorwurf, in dem Impulspapier hätten betriebswirtschaftliche Kategorien ein zu großes Gewicht. Trifft die Kritik zu, dass "Kirche der Freiheit" zu sehr von einer Sprache der Wirtschaft geprägt ist?
Huber: Das ist ganz und gar eine Frage der Leseperspektive. Menschen, die selber ihren Alltag in der Wirtschaft leben, würden natürlich nicht im Traum auf die Idee kommen, diesem Reformpapier Wirtschaftssprache zu unterstellen. Aber Menschen, die sich das aus einer binnenkirchlichen Perspektive anschauen und noch nie erlebt haben, dass kirchliches Handeln an Zielen orientiert ist, die man sogar messen kann, sind da wohl überrascht. Und sie halten das für betriebswirtschaftliche Sprache. Das kann ich nachvollziehen.
Frage: Besteht nur eine Kommunikationsbarriere, oder liegt das Problem tiefer?
Huber: Ich rate dazu, die Berührungsängste abzubauen. Denn eine Scheu vor der Lebenswirklichkeit von Millionen evangelischer Christen, die außerhalb der Kirche ihr Geld verdienen, sollte nicht das letzte Wort behalten. Es kann ja nicht das Selbstverständnis unserer Kirche sein, dass sie mit der Lebenswirklichkeit ihrer Gemeindeglieder nichts zu tun hat. Insofern stehe ich auch dazu, dass wir uns bei der Vorbereitung von "Kirche der Freiheit" an schlichte biblische Weisungen gehalten haben: "Prüfet alles und das Gute behaltet"; "seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben". Das sind biblische Kurzformeln dafür, dass Christen mit der Taufe keineswegs Berührungsängste mitgegeben sind.
Frage: Das Impulspapier "Kirche der Freiheit" bezieht sich auf das Jahr 2030. Kann der Spannungsbogen der Reformen über die nächsten zwei Jahrzehnte aufrecht erhalten werden?
Huber: Es gibt eine Zielperspektive, die auf das Jahr 2030 gerichtet ist. Damit wird allerdings nicht gesagt, dass sich die evangelische Kirche bis dahin in einem kontinuierlichen Reformprozess befindet. Denn es kann sich durchaus früher abzeichnen, was von den für 2030 formulierten Zielen schon vorher erreicht werden kann, was modifiziert werden muss, oder was sich als nicht erreichbar erweist.
Frage: In welchem Zeitrahmen klärt sich das?
Huber: Der Zeithorizont der bisherigen Reformvorhaben richtet sich eher auf das Jahr 2017 mit dem Reformationsjubiläum. Wir haben versucht, die Jahre bis dorthin zu strukturieren, damit der Spannungsbogen gewahrt werden kann. Für diese Zeitschiene haben wir sehr attraktive Themen verabredet. Das Zentralthema der Reformation mit der Rechtfertigungsbotschaft wird sich 2017 damit verknüpfen. Über 2017 hinaus zu planen würde uns alle überfordern und Festlegungen einschließen, die sich auch als Fesseln erweisen könnten.
Frage: In welchem Zusammenhang stehen Reformprozess und Reformationsjubiläum 2017?
Huber: Wir haben das inhaltlich verknüpft. Für die damit verbundenen praktischen Aufgaben mussten wir ganz wichtige Schritte vollziehen. Dazu gehören die Gründung der Wittenbergstiftung, der Vertrag mit dem Land Sachsen-Anhalt, die Konzeption für die kirchliche Präsenz in Wittenberg, um einige zu nenne. Diese Dichte von Aufgaben hat vielen Menschen ganz viel abverlangt. Es ist erstaunlich, dass in seiner solchen Organisation, wie es die Kirche auch ist, so viele Menschen so beherzt an einem Strick ziehen.
Frage: Wie wird sich der Reformprozess auf den Beruf des Pfarrers auswirken?
Huber: Das Berufsbild der Pfarrerin und des Pfarrers verändert sich derzeit ganz stark. Und ich hoffe, dass sich die Einsicht durchsetzt, dass eine Ermutigung zu einer stärkeren Konzentration in der beruflichen Tätigkeit für die Zukunft des Pfarrberufs eine große Hilfe ist. Dabei geht es um eine Öffnung des Verkündigungs- und des Seelsorgeauftrages hin zu den Menschen, die nicht schon im Alltag der sogenannten Kerngemeinde vorkommen. Darin steckt für einen Teil der Pfarrerschaft die Aufgabe einer Neuorientierung. Es gibt gemeindliche Traditionen, in denen der Besuchsdienst auch bei Kirchenfremden immer eine Rolle gespielt hat. Es gibt aber auch diejenigen, bei denen das ganz aus der Übung gekommen ist.
Frage: Aber es kommen doch regelmäßig Klagen von Pfarrern über Überlastung ...
Huber: Deshalb ist unser Vorschlag zu mindestens 50 Prozent auch ein Entlastungsvorschlag: Entlastung durch bessere Aufgabenverteilung innerhalb der Gemeinde, wo immer das geht. Es gibt viel mehr Potenzial bei Gemeindegliedern, die bereit sind, bestimmte Aufgaben wahrzunehmen, als man bisher angenommen hat Entlastung versprechen auch organisatorische und strukturelle Verbesserungen. Was wir in Strukturreformdebatten vorschlagen, zielt doch am Ende darauf, mehr Spielräume für die beruflichen Mitarbeiter zu schaffen, um ihren Hauptaufgaben nachzugehen.
Frage: Die Neuordnung der Landeskirchen hat Fortschritte gemacht, etwa in Nord- und Mitteldeutschland. Andernorts ist eine Neuordnung auch auf Widerstand gestoßen. Wie lange können sich die kleinen Landeskirchen noch ihre Unabhängigkeit leisten?
Huber: Dieser Punkt musste im Impulspapier vorkommen. Aber von Anfang an hat niemand daran gedacht, die EKD würde als Akteur in den Vordergrund treten. Veränderungen in der landeskirchlichen Struktur können nur von den Landeskirchen selber ausgehen. In "Kirche der Freiheit" ist vielleicht nicht deutlich genug artikuliert und wahrgenommen worden, dass Neubildung und Fusion nur einer der möglichen Wege ist. Daneben gibt es auch Konstellationen, in denen Kooperation der Weg der Wahl ist. Wenn Sie alle Prozesse betrachten, in denen es rasante Kooperationsfortschritte zwischen den Landeskirchen gibt, dann zeigt sich, dass in den letzten drei Jahren viel mehr geschehen ist, als die skeptischen Kommentatoren von "Kirche der Freiheit" im Juli 2006 für möglich gehalten haben. Dann zeigt sich, dass diejenigen Regionen, in denen gar nichts passiert, die Ausnahme bilden, und es stattdessen die Regel ist, dass Zusammenarbeit in Gang gekommen ist.
Frage: Mit Strukturreformen, Reformdebatten und Fusionen bietet die evangelische Kirche über Jahre das Bild einer Baustelle. Haben diese Veränderungen dazu geführt, dass die Schlagkraft nach innen und die Ausstrahlung nach außen zugenommen hat?
Huber: Wenn ich auf die evangelische Kirche in den letzten Jahren schaue, dann erinnere ich mich vor allem an wunderbare Gottesdienste auf allen Ebenen, darunter auch an große öffentliche Feste, an herausragende Kirchentage, aber auch an viele andere festliche Anlässe wie etwa den Posaunentag in Leipzig. Ich erinnere mich daran, dass es trotz der beschriebenen ökumenischen Schwierigkeiten wichtige ökumenische Gottesdienste gegeben hat. Noch nie zuvor haben wir zum Beginn von internationalen Sportwettkämpfen Gottesdienste gefeiert wie in München vor der Fußball-WM oder Mitte August in Berlin zur Leichtathletik-Weltmeisterschaft. Ich denke vor allem daran, dass die große Bedeutung des gefeierten Gottesdienstes viel stärker erlebt worden ist, als ich das jedenfalls in früheren Zeiten wahrgenommen habe. Dafür bin ich sehr dankbar; denn bei dem, was wir als Kirche tun und sagen, geht es um die Strahlkraft des Evangeliums. Unser Ziel ist es, dass Menschen lernen, fröhlich zu glauben und getröstet zu sterben, dass Menschen ihre Mitte im Gottvertrauen finden, dass sie aus der Kraft der Vergebung neu beginnen und in freier Verantwortung den Weg ihres Lebens gehen.