Seelische und soziale Narben, die nach dem Einsatz bleiben
Immer mehr Bundeswehrsoldaten leiden offenbar an psychischen Problemen und Traumata. Im ersten Halbjahr 2009 seien bei 163 Soldaten, die im Kampfeinsatz waren, psychische Probleme registriert worden - 30 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum, berichtet die "Süddeutsche Zeitung". 2008 kamen den Angaben zufolge insgesamt 245 Bundeswehrsoldaten mit einer Belastungsstörung aus dem Ausland zurück, davon 226 aus Afghanistan. Weiter heißt es, die Bundeswehr sei für die Behandlung traumatisierter Soldaten nicht ausreichend gerüstet. So stehe für die 4.500 Soldaten im Afghanistan-Einsatz gerade mal ein Psychiater zur Verfügung. Was eine Traumatisierung für den einzelnen Menschen bedeutet, zeigt beispielhaft der Fall von Martin Jäger.
17.09.2009
Von Ellen Reglitz

Es geschah am 7. Juni 2003. Bei einem Anschlag auf einen Bus der internationalen Afghanistan-Schutztruppe (Isaf) bei Kabul kommen vier deutsche Soldaten ums Leben. Sieben Soldaten werden lebensgefährlich verletzt, 22 weitere leicht. Abreisetag, der Konvoi war auf dem Weg zum Flughafen, es sollte zurück nach Deutschland gehen. Martin Jäger fuhr den Gepäckbus. Der damals 31-Jährige sah, wie seine Kameraden in die Luft flogen und überlebte nahezu unverletzt - zumindest körperlich.

Jäger brauchte das Geld. Das Haus der jungen Familie in Kiel musste bezahlt werden. Als Busfahrer war er bei der Stadt Kiel angestellt. Schon mehrfach hatte der Marine-Reservist an Auslandseinsätzen teilgenommen, im Kosovo, in Mazedonien. Dann kam Afghanistan. "Die Familie war da ganz entspannt", sagt Jäger. Wieder einmal ließ er Frau und Sohn zurück. Sieben Monate sollte er am Hindukusch Dienst leisten, im sechsten geschah der Anschlag.

"Ich habe funktioniert wie eine Maschine"

"Uns ist ein Taxifahrer hinterher gefahren, der hat sich dann in die Luft gesprengt", sagt Jäger. Er sah den Fahrer heranschnellen, wunderte sich über das Tempo, dann die Explosion. Ein Moment war Stille. Dann hört Jäger die Schreie seiner Kameraden, klettert aus seinem Sitz, läuft umher zwischen seinen verwundeten Kameraden. "Überall lagen abgetrennte Arme und Beine." Jäger tut, was er an Erster Hilfe gelernt hatte. "Ich habe funktioniert wie eine Maschine." Erst eine halbe Stunde nach dem Anschlag trifft Hilfe ein.

Tage später ist Jäger zurück in Deutschland, er bekommt eine förmliche Anerkennung seiner Leistung und zwei Tage Sonderurlaub. Nach ein paar Wochen fängt es an. Jäger zieht freiwillig in den Keller seines Hauses, weil er den Geruch von Fleisch und Haut oben nicht mehr ertragen kann. "Ich hatte einen Ekel vor allem, selbst vor meiner Frau." Beim Geruch von Verbranntem muss er sich übergeben. "Ich konnte das eigenen Kind nicht mehr kuscheln, das ging alles nicht mehr."

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Monate später geht er erstmals zur psychologischen Beratung. Die Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). "Und ich kannte das gar nicht, ich dachte immer, das wäre eine Hautentzündung", sagt Jäger. Eine psychologische Vorbereitung auf seine Einsätze habe er nie bekommen: "So was gab es damals noch nicht."

Fremde verprügelt und mit 50 Kilo Gepäck gejoggt

Jäger wird wegen der Erkrankung seinen Job bei der Stadt Kiel los. Er kann seine Familie nicht mehr ernähren, verliert erst sie, dann Haus und Hund. Er verfällt dem Alkohol, verprügelt wahllos fremde Menschen. "Egal, wer hier in Kiel rumschlurfte, den habe ich mir gegriffen. Die haben eins auf die Nuss gekriegt und dann war gut, das war für mich eine innere Befriedigung." Er sucht einen Ausweg, joggt zehn Kilometer mit 50 Kilogramm Gepäck auf dem Rücken.

Die Bundeswehr stellt Jäger als Zeitsoldaten ein. Heute ist er 38 Jahre alt. Seine geschiedene Frau lebt mit den Kindern in Berlin. Ihr zweites Kind, eine Tochter, zeugten sie in der Nacht nach seiner Ankunft aus Afghanistan. Jäger sieht sie zweimal im Jahr, seine Eltern und Geschwister überhaupt nicht mehr. Weil er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr joggen darf, fährt er Fahrrad, 250 Kilometer am  Wochenende. Er geht spät ins Bett und steht um drei Uhr wieder auf. Die Knochen in seinem Kiefer bilden sich zurück, die Zähne werden ihm ausfallen. "Der Körper will was rauslassen."

Mit dem Anschlag, sagt Jäger, sei er über den Berg. "Das Schlimmste sind die sozialen Folgen." Seit einigen  Monaten hat er zum ersten Mal wieder eine Freundin. Ende dieses Jahres läuft sein Vertrag bei der Bundeswehr aus. In England hat er eine Ausbildung zum Personenschützer gemacht. Er will im Ausland arbeiten. "Irak, Afghanistan, wäre mir völlig egal. Ich muss ja da weiter machen, wo ich aufgehört habe."

epd