Dass sich Kirchentagsbesucher mit Behinderung über zu wenig Respekt oder mangelnde Freundlichkeit der gastgebenden Bevölkerung beschweren, hat Marcus Blanck noch nie erlebt. "Egal in welcher Stadt der Kirchentag zu Gast war: Der Kirchentag verändert die Stadt komplett und auch die Art und Weise, wie einem Menschen gegenübergetreten wird", sagt er.
###mehr-artikel### Blanck ist Referent in der Bundesgeschäftsstelle der Johanniter-Jugend und engagiert sich in der ehrenamtlichen Projektleitung "Kirchentag barrierefrei". Seit fünfzehn Jahren hilft er auf dem Kirchentag bei der Betreuung von Menschen mit Behinderung, organisiert unter anderem den Begleitservice der Johanniter-Jugend. Im "Zentrum barrierefrei" des Kirchentags bekommen Menschen mit Behinderung Unterstützung: Dort finden sie zum Beispiel einen Gebärdensprachdolmetscher oder behindertengerechte Toiletten mit Pflegepersonal, können Rollstühle ausleihen oder reparieren lassen.
Etwa 2500 Menschen mit Behinderung zieht es nach Angaben des Kirchentages auf die Großveranstaltung, die alle zwei Jahre stattfindet. Sie werden von rund 500 ehrenamtlichen Helfern unterstützt. Es gibt barrierefreie Schlafquartiere und 50 Fahrzeuge sind im Einsatz, um Rollstuhlfahrer zu den Veranstaltungsorten zu bringen. Seit 1983 gibt es auf den Kirchentagen ein "Service- und Begegnungszentrum" für Menschen mit Behinderung, seit 1989 helfen die Johanniter mit ihrem Begleitservice.
Kirchentag ist mehr als intellektuelle Höchstleistungen
Seit den Anfängen hat sich einiges getan. Vor zehn Jahren kam das erste Kirchentags-Heft in leichter Sprache heraus, mittlerweile finden sich auch im Kirchentagsliederbuch leicht verständliche Lieder. "In den letzten zehn Jahren hat sich das Zentrum Barrierefrei stark verändert. Wir beschäftigen uns jetzt auch inhaltlich mit den Themen Behinderung und Teilhabe", sagt Blanck. Zum Beispiel gibt es jetzt Schnupperkurse in Gebärdensprache.
Auf dem Kirchentag in Hamburg im vergangenen Jahr gab es im Zentrum auch eine Bibelarbeit für alle Interessieren. "Das Zentrum soll den Kirchentag in seiner ganzen Bandbreite darstellen und richtet sich nicht speziell an Menschen mit Behinderung. Wir wollen zeigen, dass es bei Inklusion um viel mehr geht als um Menschen mit Behinderung."
Auf dem Kirchentag 2013 war Inklusion zum ersten Mal ein Schwerpunktthema. Im Zentrum Inklusion wurde über Pränataldiagnostik oder die Ausgrenzung von armen Menschen diskutiert. Zum ersten Mal wurde der zentrale Eröffnungsgottesdienst, der in leichter Sprache gehalten wurde, im Fernsehen übertragen. "Das war ein starkes Signal in die Öffentlichkeit, dass der Kirchentag sich bemüht, alle Menschen einzuladen, unabhängig davon, welche intellektuellen Fähigkeiten sie mitbringen", sagt Marcus Blanck.
Der Kirchentag will sich bemühen, noch barrierefreier zu werden. Schon jetzt kann man sich auf der Kirchentagshomepage in leichter Sprache über den kommenden Kirchentag 2015 in Stuttgart informieren, im Herbst sollen weitere Informationen dazukommen. Seit letztem Jahr gibt es einen Beraterkreis Inklusion, der sich zwischen den Kirchentagen trifft und das Inklusions-Konzept weiterentwickelt. Darin sitzt auch Michael Hofmann, im "wahren Leben" Qualitätsmanager bei der Barmer GEK. "Wir wollen Lust machen auf Inklusion", betont Hofmann.
"So viele Menschen im Rollstuhl habe ich hier noch nie gesehen"
Der Kirchentag will Werkstatt und Schaufenster zugleich sein: "Wir wollen ausprobieren, wie wir noch mehr Menschen willkommen heißen können, aber auch Menschen Mut machen, Verschiedenheit als Reichtum zu empfinden", sagt Hofmann. Viele Menschen hätten die Vorstellung: Kirchentag ist intellektuell. "Aber natürlich besteht eine Großveranstaltung mit über 100.000 Teilnehmern nicht nur aus einzelnen herausragenden Vorträgen. Da findet noch viel mehr statt", betont er.
"Auf Kirchentagen erlebe ich es häufig, dass Bewohner der Gastgeber-Stadt sagen: So viele Menschen im Rollstuhl habe ich in unserer Stadt noch nie gesehen", erzählt Hofmann. Das scheint widersinnig, denn selbstverständlich gibt es in Städten wie Hamburg viel mehr Rollstuhlfahrer als die, die den Kirchentag besuchen. Aber plötzlich sind viele Menschen mit Rollstuhl in der Stadt unterwegs, sie werden gesehen. "Und das ist doch auch eine Voraussetzung für Barrierefreiheit und Inklusion, dass Menschen mit Behinderung sichtbar sind."
###mehr-links### Auf dem Kirchentag in Stuttgart wollen Hofmann und sein Team dafür sorgen, dass auch die Bedürfnisse von Kirchentagsbesuchern mit nicht-sichtbarer Behinderung besser wahrgenommen werden. Hofmann erzählt von einer Begegnung mit einer Kirchentagsteilnehmerin aus einer Selbsthilfegruppe für Menschen, die am Asperger-Syndrom leiden. Sie empfand es als Qual, dass ihr ständig ins Gesicht geschaut, sie ständig angesprochen wurde. "Trotzdem nehmen sie und viele andere Menschen mit besonderen Bedürfnissen die Fahrt zum Kirchentag auf sich", sagt Hofmann.
Auf dem Weg zu mehr Barrierefreiheit hat der Kirchentag noch einige Hürden zu überwinden. "Das einfachste wird es sicher werden, jede Veranstaltung mit Induktionsschleifen auszustatten oder darauf zu achten, dass auf dem Weg zum Veranstaltungsort keine Stufen überwunden werden müssen", sagt Marcus Blanck. "Ein Problem für Menschen mit Behinderung ist dagegen immer noch, alle Veranstaltungsorte zu erreichen – insbesondere dann, wenn der Kirchentag dezentral über die ganze Stadt verteilt ist", betont er. Wenn etwa die U-Bahn-Station keinen Fahrstuhl hat, kann der Kirchentag daran wenig ändern. Auch der Kirchentag in Stuttgart wird nicht zentral auf dem Messegelände, sondern an verschiedenen Orten in der Stadt stattfinden. "Dann steht man vor dem Debakel, dass Menschen eben doch nicht teilnehmen können, obwohl der Kirchentag eigentlich alles dafür tut."
Trotz aller Hürden sieht Marcus Blanck den Kirchentag auf einem guten Weg. Die Grundlage für sein Engagement ist für ihn ganz klar: "Wir Menschen sind nach Gottes Ebenbild geschaffen, und zwar unabhängig davon, welche psychischen oder physischen Voraussetzungen wir mitbringen."
Video: Die Johanniter auf dem Kirchentag