Kinder reden wild durcheinander, schlurfen kreuz und quer über den Flur. Einige setzen sich auf kleine Holzbänke, um ihre Straßenschuhe anzuziehen, weil sie mit ihrer Gruppe rausgehen möchten. Ein Mädchen mit dunklen Locken hält einen kleinen Stoffhasen in der Hand. An den Wänden hängen viele bunte Bilder, die die Kinder selbst gemalt haben. Der Johanniskindergarten im Frankfurter Stadtteil Bornheim sieht aus wie viele andere Kitas in Deutschland auch. Etwa 80 Kinder im Alter ab drei Jahren werden hier betreut, bis sie in die Schule kommen.
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Doch wer genauer hinsieht, bemerkt an manchen Stellen, dass etwas anders ist: Jedes Kind hat einen Spind für seine persönlichen Sachen. An jedem hängt ein Foto des jeweiligen Kindes, doch auf einer Holztür klebt zusätzlich ein großer roter Punkt. "Das ist Rosas Schrank, sie sieht sehr schlecht, aber durch den roten Punkt kann sie ihren Spind problemlos erkennen", erklärt Petra Vogel, Erzieherin in dem Kindergarten.
Rosa ist eins von derzeit fünf Kindern mit Einschränkungen in der Frankfurter Kita. Seit fast 30 Jahren werden im Johanniskindergarten Kinder mit unterschiedlichen Einschränkungen betreut - vor etwa zwanzig Jahren hat sich die Einrichtung offiziell verpflichtet, fünf bis sechs Kinder mit besonderem Förderbedarf aufzunehmen. Einige sehen oder hören schlecht, andere sind entwicklungsverzögert - können also vielleicht noch nicht altersgemäß sprechen oder tun sich mit manchen Bewegungen noch schwer. Wieder andere sind Autisten oder sitzen im Rollstuhl. Sie alle sollen ganz selbstverständlich mit anderen Kindern aufwachsen.
Mut ist gefragt, alte Strukturen zu durchbrechen
Kinder beispielsweise, die wenig sehen können, sind oft besonders begeistert von Spielzeugen aus verschiedenen Materialien, weil die sich unterschiedlich anfühlen. Deshalb können die Kinder unter anderem mit einem großen gelben Würfel aus Schaumstoff, Bauklötzen aus Holz und Plastik und Spielzeugautos aus Metall spielen. In der Bücherecke stehen Fühlbücher oder welche mit besonders großen Bildern und Buchstaben, es gibt ein paar besonders kleine Tische und Hochstühle, damit Kleinwüchsige dort selbst hochklettern und beispielsweise mit anderen gemeinsam am Tisch essen können.
Die vielen Weichböden und Krabbeltunnel sind bei allen Kindern beliebt, genau wie Hängematte und Trampolin – selbst Kinder, die nur liegen können, haben dort ihren Spaß. "Bei Inklusion geht es uns darum, dass möglichst jeder an vielen Dingen teilnehmen kann", erklärt Petra Vogel.
"Oft reicht es, alte Strukturen zu hinterfragen und gegebenenfalls anzupassen", davon ist Inklusionsexpertin Dawna Russell überzeugt. Sie hat integrative Heilpädagogik studiert und das Netzwerk "inklue" gegründet, das Beratungen und Fortbildungen rund um das Thema Inklusion anbietet. "Viele Kinder mit einer Einschränkung müssen zum Beispiel weit weg von ihrem Wohnort in eine Kita gehen. Es kann sein, dass sie deshalb später als andere in die Kita kommen. Wenn das heißt, dass sie immer in den Morgenkreis reinplatzen und so die anderen Kinder stören, leiden alle darunter. Die Lösung: Ein offenes Konzept mit flexiblen Zeiten", sagt sie. Einiges lässt sich in puncto Inklusion also schnell und ohne finanziellen Aufwand erreichen.
Inklusion als Teil des christlichen Selbstverständnisses
Der Johanniskindergarten wirbt nicht gezielt damit, dass auch förderungsbedürftige Kinder willkommen sind. Für das Team der evangelischen Kita ist Inklusion Teil des christlichen Selbstverständnisses. "Für uns stellte sich nie die Frage, ob wir behinderte und nicht-behinderte Kinder in verschiedenen Gruppen trennen. Die Kinder sollen erkennen: du bist da und ich bin da – du brauchst das und ich das. So akzeptieren sie sich gegenseitig", sagt Erzieherin Elke Schulmeyer.
Inklusion bezieht sich nicht nur auf körperliche oder geistige Einschränkungen. Es geht auch um kulturelle und soziale Unterschiede. "Viele Kinder sind von Armut betroffen oder haben Sprachbarrieren", erklärt Dawna Russell. Ziel der Inklusion ist aus ihrer Sicht: "Volle und uneingeschränkte Teilhabe an Gesellschaft, in allen Bereichen des Lebens, beim Spielen, Lernen und später am Arbeitsplatz. Das darf aber nicht heißen, dass jedes Kind gleich sein muss, dann ist Inklusion nicht gelungen."
Die unterschiedlichen Einschränkungen der Kinder bedeuten für die Erzieherinnen und Erzieher immer wieder neue Herausforderungen. Falls beispielsweise mehrere Kinder mit einer extremen Sehschwäche in den Gruppen sind, wäre es möglich, den Außenbereich so zu gestalten, dass er allen Kindern leicht zugänglich ist: Die Klettergerüste und Schaukeln könnten unterschiedliche Farben bekommen, damit Kinder, die schwer sehen, den Bereich direkt erkennen und ihre Sehfähigkeit gleichzeitig stärken können. "Das kann bedeuten, dass wir das Schaukelgerüst umlackieren, vielleicht reichen aber auch farbige Punkte", erklärt Petra Vogel. Ihre Kollegin Elke Schulmeyer ergänzt sicher: "Ich muss Inklusion wollen, dann setze ich mich damit auseinander, welche Möglichkeiten zur Umsetzung ich habe."
Von Inklusion profitieren alle
Dem Team im Johanniskindergarten ist es wichtig, dass alle Erzieherinnen und Erzieher auch für alle Kinder da sind. "Nach unserem Verständnis arbeiten nicht einzelne Experten mit den speziellen Kindern, sondern alle sind an der Inklusion beteiligt", sagt Petra Vogel. Anders wäre das offene Konzept der Kita auch gar nicht möglich. In jedem Raum gibt es einen zuständigen Ansprechpartner – ob in der Bibliothek, im Bewegungsraum oder im Bereich für Experimente und Naturwissenschaften. "Falls ein Kind gerade besonders viel Aufmerksamkeit braucht, unterstützen wir uns gegenseitig, damit alle Kinder eine angemessene Betreuung bekommen", sagt Petra Vogel. Elke Schulmeyer ergänzt: "Die Herausforderung besteht darin, zu schauen, dass ein Kind mit besonderem Förderbedarf weder in der Gruppe untergeht noch zu sehr im Fokus steht."
Ein schüchterner Junge läuft unbeholfen auf Petra Vogel zu. Er heißt Fabian und ist Autist. Eigentlich sollte er schon in die Schule kommen, bleibt aber nun noch ein Jahr länger in der Kita. Fabian greift einfach nach einem Gegenstand, der ihn interessiert. Besonders technische Geräte faszinieren ihn. Meistens zeigt er mit den Fingern, in welchem Raum er nun spielen möchte. Er spricht kaum. Die Erzieher haben gelernt, damit umzugehen. Sie sprechen aber natürlich mit ihm, damit er die Sprache lernt. Fabian darf sich wie alle anderen Kinder auch morgens selbst aussuchen, welchen Bereich innerhalb des offenen Angebots er nutzen will.
Mit vielen Handicaps hat das Team bereits Erfahrung. Doch falls nötig, besuchen die Erzieherinnen und Erzieher spezielle Fortbildungen, noch bevor das entsprechende Kind in die Kita kommt. So lernen sie, welche Hilfestellung beispielsweise ein Diabetiker oder ein autistisches Kind braucht. Um solche Fortbildungen oder Materialien für die Kinder zu besorgen, bekommt die Kita gesonderte Gelder.
Auch während das Kind in der Kita ist, wird dessen Lernfortschritte besprochen. Mindestens einmal im Jahr findet für jedes Kind mit erhöhtem Förderbedarf ein "runder Tisch" statt. Dabei setzen sich die Erzieher mit Eltern, Ärzten, Logopäden oder anderen Menschen, die mit dem Kind arbeiten, zusammen. Gemeinsam besprechen sie, auf welchem Entwicklungsstand das Kind ist, welche Fortschritte es gemacht hat und wo weiter Unterstützung notwendig ist.
Sogar Zweifler sind überzeugt
Bis die Eltern das inklusive Arbeiten schätzten, hat es allerdings etwas gedauert. "Manche hatten zunächst Sorge, dass eigene Kind müsse zurückstecken, weil Kinder mit besonderem Förderbedarf mehr Aufmerksamkeit benötigen", erzählt Leiterin Anne Lippert-Singh. "Durch Elternabende und Einzelgespräche haben wir diese Ängste aber ausräumen können."
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Mittlerweile stellen viele Zweifler fest, dass das eigene Kind von der Arbeit dort profitiert. Nicht nur, weil es offen und tolerant mit Unterschieden umgeht, sondern auch, weil die Erzieherinnen und Erzieher durch ihre inklusive Arbeit in der Lage sind, jedes Kind ganz genau zu beobachten und Entwicklungsschritte wahrzunehmen. Das ist für alle Kinder ein Vorteil. "Das merken auch die Eltern, die zu uns kommen. Sie finden es toll, wie selbstverständlich Kinder mit Einschränkungen wahrgenommen werden, auch von ihrem Kind. Denn manchmal setzen sich die Eltern selbst dadurch zum ersten Mal mit unterschiedlichen Einschränkungen auseinander", sagt Anne Lippert-Singh.
Kinder haben weniger Schranken im Kopf
Die Erzieher sind sich einig, dass Kinder unvoreingenommener mit Behinderungen umgehen als Erwachsene. Die Kleinen reden vielleicht nicht miteinander, zeigen aber durch eine Berührung oder freundliche Geste, dass sie sich mögen. "Kinder haben viele Fragen, wenn sie jemanden treffen, der anders ist als sie selbst – gleich, welche Einschränkung er oder sie hat. Je früher man diese Fragen beantwortet, umso selbstverständlicher ist der Umgang miteinander", ist Elke Schulmeyers Erfahrung. Auch Dawna Russell ist sicher: "Es spielt eine entscheidende Rolle für die Identitätsfindung des Kindes, dass es sich in der Kita willkommen und angenommen fühlt."
Anne Lippert-Singh verweist darauf, dass Kinder besser von anderen Kindern lernen als von Erwachsenen. Sie beobachten sich gegenseitig, sehen, was dem anderen schwerfällt, in welchen Situationen sie helfen können, und was sie selbst vom Gegenüber lernen können. So fordern sie sich gegenseitig heraus: Der eine kann schon klettern, Stufen gehen oder sich die Schuhe binden, andere schauen es ab. Der nächste tut sich mit dem Essen leichter und kann einem anderen Kind zeigen, wie es Messer und Gabel besser in der Hand halten kann. Das Team ist überzeugt: Inklusion bietet tolle Entwicklungschancen für alle. Petra Vogel bringt es auf den Punkt: "Es ist ein Geschenk, mit Kindern inklusiv arbeiten zu dürfen."
Dieser Text wurde erstmals am 22. Juli 2014 auf evangelisch.de veröffentlicht.