Was wird sich in Brasilien mit der WM ändern? Darüber sprechen brasilianische Sozialarbeiter mit Schülern in Berlin
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Was wird sich in Brasilien mit der WM ändern? Darüber sprechen brasilianische Sozialarbeiter mit Schülern in Berlin
Wenn die Favela ins Klassenzimmer kommt
Zwei brasilianische Sozialarbeiter reisen während der Fußball-Weltmeisterschaft durch Deutschland, um Schülern das Leben der Kinder in den Armenvierteln Brasiliens abseits des Fußballspektakels nahe zu bringen.

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Das rote Seil auf dem Boden ist die Grenze. Hier, mitten im Klassenzimmer, müssen sie sich entscheiden: Wird es den Menschen in Brasilien nach der Fußball-Weltmeisterschaft besser gehen oder schlechter? Was wird aus denen, die ihre Häuser verlassen mussten, weil dort neue Stadien gebaut wurden? Das rote Seil teilt die Fünftklässler in Optimisten und Pessimisten. Sie haben die Wahl: Vor dem Seil stehen heißt, es wird besser – dahinter stehen heißt, es wird schlechter. Einige gehen vor und wieder zurück. Nur drei bleiben davor stehen. Die meisten stellen sich auf das Seil. Sie sind sich nicht sicher.

"Don Bosco macht Schule" lautet das Projekt, bei dem zwei brasilianische Sozialarbeiter während der WM Schulen in Deutschland besuchen: João Bosco Veras aus Belo Horizonte und Marcos Silas Justino Pereira aus São Paulo. Auf ihrer dreiwöchigen Tour vom Rheinland übers Ruhrgebiet nach Mainz, Berlin und Hamburg versuchen sie, den Schülern das Leben der Kinder und Jugendlichen in Brasilien abseits des WM-Spektakels nahe zu bringen.

Tanzen als Chance

An diesem regengrauen Vormittag sind sie in der Walter-Gropius-Schule, einer Gesamtschule in Berlin-Neukölln. Die Schüler erwartet ein dreisprachiger Vortrag über Alltag, Gewalt und Bildung in den Favelas Brasiliens. Denn  João Bosco und Marcos Silas sprechen nur portugiesisch. Dafür sind Kristina Dalacker und Inga Schallau mit dabei. Sie begleiten die beiden Sozialarbeiter auf ihrer Tour. Und beide können spanisch. "Das ist dem Portugiesischen sehr ähnlich", erklärt Schallau den Kindern. Ein Doch vor allem geht es um eines an diesem Vormittg – ums Tanzen.

João Bosco – gelb-rote Batik-Weste und -Rock, schwarzes T-Shirt – kauert auf dem Boden und schwingt schlangenartig seine Arme durch die Luft. Ein Tanz der brasilianischen Ureinwohner. Fast alle Kinder geben sich Mühe, nicht laut zu lachen. Die murmelnden Klänge aus den Lautsprechern durchbricht immer wieder ihr Prusten. João Bosco, 41, mittelgroß, gedrungene Figur, weiche Gesichtszüge, ist Tänzer und Sozialarbeiter in Belo Horizonte, einer 2,5-Millionen-Einwohner-Stadt im Südosten Brasiliens. Dort kümmert er sich um Jugendliche aus zerrütteten Familien und gibt Tanzkurse.

Die Tanzeinlage von ihm und seinem Kollegen Marcos Silas  ist wie ein choreographierter Überblick über die Geschichte Brasiliens. Weiter geht es mit Capoeira – ein Kampftanz, den afrikanische Sklaven im 18 Jahrhundert entwickelten. Den tanzt man nicht allein: Alle Kinder stehen im Kreis zusammen im Klassenraum, der kleiner als der Mittelkreis eines Fußballplatzes ist. João Bosco und Marcos Silas zeigen, wie man den Tanz eröffnet: Rad schlagen, dann ein angetäuschter Tritt im Faultiertempo. Zwei Mädchen machen es nach. Nach dem Radreißen sie irgendwie noch je ein Bein hoch und fallen dann vor Lachen fast um. Marcos Silas, 45, ein kleiner drahtiger Mann mit kurzen grauen Haaren und breitem Grinsen, kommt aus São Paulo.

Gruppenbild in der Neuköllner Gropiusschule
Er arbeitet in einem Jugendzentrum in Itaquera im Westen der 20-Millionen-Metropole. Itaquera bedeutet in der Sprache der Ureinwohner so viel wie "harter Stein". Der Name passt. Itaquera ist ein hartes Pflaster. Marcos Silas kümmert sich um Jugendliche, die wegen Drogenhandel, Raub oder Einbruch verurteilt wurden und nun statt einer Haftstrafe wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden sollen. "Sie  sind nur ein bisschen älter als ihr und haben einen Laden ausgeraubt, oder jemanden überfallen", sagt er. 1.200 Teenager kommen täglich ins dortige Jugendzentrum, sie bekommen Hilfe bei den Hausaufgaben und sind "weg von der Straße", sagt Marcos Silas. Das Tanzen kann eine Chance sein, wie er stolz den Schülerinnen und Schülern erzählt: "Manche haben von dort den Sprung zum Cirque du Soleil oder ans russische Bolschoi-Theater geschafft."

Gegenüber dem Jugendzentrum in Itaquera ist für die Weltmeisterschaft ein neues Stadion entstanden, ein großer weißer eckiger Kasten, der wie eine überdimensionierte Tortenschachtel aussieht. Wohnhäuser wurden dafür abgerissen, und auch Familien von den Kindern, die in Marcos Silas' Jugendzentrum kamen, mussten deshalb wegziehen. Nach der WM wird dort der Fußballverein Corinthians São Paulo seine Heimspiele austragen, es ist der Lieblingsverein von Marcos Silas.

Wer gewinnt die WM?

Auch Neukölln gilt als hartes Pflaster. Ein Stadtteil, der in den Medien für Schlagzeilen und Einschaltquoten gut ist und dafür auch herhalten muss. Fast jeder Deutsche hat ein Bild davon, dort tatsächlich gewesen sind die wenigsten. Sozialer Brennpunkt, hoher Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergund lauten die Beschreibungen. Begriffe die von Personen erfunden worden sind, die hier nicht aufgewachsen sind. Sozialschwach werden solche Gegenden auch genannt, gemeint ist wohl wirtschaftlich schwach. Die beiden Sozialarbeiter aus Brasilien sind hingegen beeindruckt. "Hier ist alles sehr gut organisiert, die Kinder sind diszipliniert und kritisch", sagt Marcos Silas. Die Schüler haben sich vorbereitet auf diesen Tag. Sie tragen vor, was sie über Brasilien gelernt haben: "Brasilien ist das fünftgrößte Land der Erde",  "Es gibt viele Straßenkinder.", "Die meisten können sich die teuren Tickets für die WM-Spiele nicht leisten." Nicken bei den Sozialarbeitern. "Deutschland passt von der Fläche 24-mal in Brasilien." Die beiden schauen skeptisch. Doch da sind sich die Kinder sicher. Sie sind schließlich vorbereitet.

An den Wänden hängen gemalte Bilder von Tieren aus dem brasilianischen Regenwald – Tukane, Anakondas, Klammeraffen – und WM-Tipps in Schreibschrift: Brasilien gewinnt, Italien hat keine Chance. Lehrerin Britta Hübel verfolgt den Unterricht am Rand von ihrem Pult aus. "Es ist viel spannender für die Kinder, Menschen aus dem Land vor sich zu haben als nur ein Blatt Papier mit Informationen."

22 Kinder sind in dieser Schulklasse. In Brasilien drängen sich oft mehr als doppelt so viele Kinder in den Klassen. Die Schüler werden daher aufgeteilt. In die, die vormittags Unterricht haben, und jene, die nachmittags zur Schule gehen. Die Lehrer bleiben. Um sich einen gewissen Lebensstandard leisten zu können, arbeiten sie doppelt. In der Schule bekommen die Kinder auch mittags etwas zu essen. Oft ist es die einzige warme Mahlzeit, die sie bekommen, denn zu Hause fehlt entweder das Geld oder das Interesse. Im Moment gibt es in Brasilien gar keinen Unterricht. Wegen der WM wurden einfach die Sommerferien um die vier Wochen des Turniers vorgezogen. João Bosco sagt: "Dadurch fällt auch die tägliche Mahlzeit weg."

Wird es den Menschen in Brasilien nach der WM besser gehen oder schlechter? Sozialarbeiter Marcos Silas wiegt den Kopf hin und her, verzieht das Gesicht zu einem skeptischen Grinsen. Er hätte sich wohl auch auf das rote Seil gestellt.