"Versucht mal, schlank zu singen. Nicht so dick wie ein Elefant", sagt Cornelia Jager. Immer wenn die Pfarrerin an diesem Vormittag etwas erklärt, sucht sie nach einfachen Vergleichen, benutzt ihre Hände um zu unterstreichen, was sie sich von ihren Mitsängern wünscht. Und es funktioniert. Die Mitglieder des Essener Menschenstadt-Chores singen das Halleluja nun deutlich eleganter – und das dreistimmig. Auch wenn beim zweiten Durchgang nicht jeder weiß, zu welcher Gruppe er gehört, unterstützt von Kirchenmusikerin und Pfarrerin Jager landen alle gemeinsam schließlich beim finalen Amen.
###mehr-links###
Der Menschenstadt-Chor, das sind 54 Hobbysänger mit und ohne Handicap. Vier Mitglieder sitzen im Rollstuhl, der Großteil ist geistig behindert, aber alle genießen das gemeinsame Musizieren sichtlich. Noten und Textbücher gibt es hier nicht, alle Strophen werden auswendig gelernt. Etwas, an das sich Sänger ohne Behinderung erst einmal gewöhnen müssen. "Hier macht es mir bei Weitem am meisten Spaß. Bei anderen Chören kommt es vor allem darauf an, besonders gerade zu singen. Hier steht die Gemeinschaft im Zentrum", sagt Cornelia Jager.
Alle zwei Wochen probt der Chor. Heute ist er zu einem Probe-Wochenende zusammen gekommen, pro Jahr stehen bis zu acht Auftritte an. "Musik ist nicht behindert. Sie ist unsere gemeinsame Sprache", findet Jager. "Schief singen können auch die anderen."
"Ich darf auch mal etwas nicht können"
Klaus von Lüpke würde in keinem anderen Chor mitmachen. "Hier bringt es mir Spaß. Denn ich darf auch mal etwas nicht können", sagt der Pastor. Auf ihn und seine Frau Hannelore geht es zurück, dass der evangelische Kirchenkreis Essen ein Vorreiter für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung geworden ist, der bundesweit als Vorbild gilt. "Mit dem Konfirmandenunterricht hat alles angefangen", erinnert sich die 76-Jährige beim Chor-Wochenende, das sie ehrenamtlich begleitet.
Eltern behinderter Kinder wandten sich Anfang der 70er-Jahre an die Mitarbeiterin des Jugendreferats, weil sich Pfarrer weigerten, ihre Söhne und Töchter zu konfirmieren. Das Hauptargument sei gewesen, dass die Jugendlichen mit Handicap nicht so gut auswendig lernen können, berichtet Hannelore von Lüpke. In mehreren Gemeinden entstanden daraufhin mit der Zeit integrative Jugendgruppen.
Neue Angebote wurden nach und nach ins Leben gerufen, weil Eltern weitere Bedarfe anmeldeten. Auf ihren Wunsch, auch mal mit dem Nachwuchs verreisen zu können, geht das umfangreiche Urlaubsangebot zurück: In diesem Jahr stehen 32 Reisen zur Auswahl. Es geht nach Kreta, Menorca, Wien, Sylt oder Texel, auch zwei Segelkurse auf der Nordsee konnten gebucht werden. Bereits zum 44. Mal fährt eine Gruppe diesen Sommer ins fränkische Obereisenheim. Bis zu 450 Menschen verreisen jährlich mithilfe des Kirchenkreises. Begleitet werden sie von rund 160 Ehrenamtlichen.
72 Seiten Jahresprogramm
Schon kurz nach der Veröffentlichung des Programms seien viele der Freizeiten komplett ausgebucht, berichtet Pfarrerin Christine Stoppig. Die 49-Jährige leitet das Behindertenreferat des Kirchenkreises – auch heute noch keine alltägliche Einrichtung in der evangelischen Kirche. In Essen wird es bereits 1977 gegründet und Klaus von Lüpke erster Leiter.
Schon kurz danach startet der heute 73-Jährige mit einem Elterninitiativkreis den bundesweit ersten Integrationshelferdienst – ein Angebot, das heute überall in Deutschland anerkannt ist. Für die Arbeit seines Referats wählt der Pastor den Titel "Aktion Menschenstadt" – Jahrzehnte bevor sich die "Aktion Sorgenkind" in "Aktion Mensch" umbenennt. Von Lüpkes Motto: "Miteinander für eine menschlichere Stadt für alle".
###mehr-artikel###
Der Chor ist nur eines von vielen Angeboten. 72 Seiten umfasst das Jahresprogramm – vom Konfirmandenunterricht, über einen inklusiven Fotokurs, den Lea ("Lesen Einmal Anders") Leseklub, der Essener Frauen-Schnatter-Gruppe, Tanzkompanie und Yoga. Etwa 2000 Menschen mit und ohne Handicap profitieren jedes Jahr von den vielseitigen Aktionen. Traditionell hat sich das Behindertenreferat auf Essener mit geistiger Behinderung spezialisiert und spricht dabei alle Altersgruppen an.
Trotz ihres Alters ist auch die "Aktion Menschenstadt" immer in Bewegung, wird noch inklusiver. Chillen, sich bei den Hausaufgaben helfen lassen, im Internet surfen, Billard spielen – all das können Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im evangelischen, offenen Kinder- und Jugendhaus Buschhütte, das seit 1985 besteht. Im Frühjahr wechselte es die Trägerschaft – vom Behindertenreferat zum Jugendreferat des Kirchenkreises. "Ein großer Schritt", findet Pfarrerin Christine Stoppig. Das inklusive Haus werde nun in die üblichen Strukturen der Jugendarbeit eingebettet. "Auf lange Sicht wird das in die Breite strahlen."
Eine Essener Besonderheit sind die Mini-Ferien. Rund 40 Mal im Jahr können vier bis fünf Kinder und Jugendliche ein Wochenende mit Betreuern in einer angemieteten Wohnung verbringen. Es wird gemeinsam gekocht, gespielt, die Sechs- bis 26-Jährigen gehen Schwimmen oder in die Disko. Väter und Mütter haben so mal ein Wochenende für sich.
Für Stoppig ist das Angebot nicht mit traditioneller Kurzzeitpflege vergleichbar. Es gehe nicht nur um Familienentlastung, sondern auch um "wertvolle Erfahrungen" für die Kinder und Jugendlichen. Für sie sei es ein "Einüben von Selbstständigkeit, von Freizeitgestaltung ohne die Eltern". Das Interesse an diesem Angebot ist groß – die Wartelisten für die Mini-Ferien seien "rappelvoll", sagt die Pfarrerin.
Inklusion gelingt auf Grundlage gemeinsamer Interessen
Über das Jahr verteilt beteiligt sich das Behindertenreferat an mehreren ökumenischen und bunten Gottesdiensten. Sie werden von Menschen mit und ohne Behinderung in Vorbereitungskreisen geplant. "Dass Inklusion in Kirchengemeinden stattfinden kann, hängt nicht an Finanzen", meint Stoppig. Vielmehr gehe es um eine Haltungsänderung. Ihr Paradebeispiel: Immer wieder würde sie es erleben, dass Einladungen für Kindergottesdienste in allen Grundschulen einer Gemeinde verteilt würden, aber nicht in den Förderschulen. "Noch haben nicht alle Gemeinden das Thema Inklusion für sich entdeckt."
Dafür, dass die Bedürfnisse und Meinungen von Menschen mit Handicap gehört werden, setzt sich unter anderem die Gruppe "Nicht ohne uns" ein. Mindestens einmal im Monat trifft sich die inklusive Runde und spricht über Arbeit, Wohnen, Politik, Kontakte zu anderen Menschen oder Freizeitgestaltung. Unter dem Motto "Gemeinsamkeit macht alle stark" findet im August zudem eine Fachkonferenz für Menschen mit Behinderung statt. Die Teilnehmer diskutieren über die Themenfelder Politik, Arbeit und Umgang mit Gewalt. Die Ergebnisse der zweitägigen Konferenz stellen die Teilnehmer in einer Abschlussveranstaltung der Öffentlichkeit vor.
Ein weiteres spannendes Projekt: Menschen mit geistiger Behinderung werden selbst zu Ehrenamtlichen. Benjamin Jellen ist einer von ihnen. Der 23-Jährige arbeitet in der Werkstatt des Franz-Sales-Hauses. In seiner Freizeit begleitet er Reisen der "Aktion Menschenstadt" als Betreuer und unterstützt auch die Bahnhofsmission. "Ich arbeite sehr gerne mit Kindern und Jugendlichen zusammen", erklärt der Essener. Nebenbei ist er auch in der Gottesdienst-Gruppe aktiv und spielt Rollstuhl-Basketball, obwohl er selbst kein körperliches Handicap hat.
"Inklusion kann nur gelingen, wenn sie auf Grundlage gemeinsamer Interessen geschieht", sagt Klaus von Lüpke. Egal, ob es gemeinsames Tanzen, Billardspielen oder Singen ist.