Postkarte aus dem Ersten Weltkrieg mit einem Abschiednehmenden Liebespaar und Volksliedstrophe.
© epd-bild/akg-images
Feldpostkarte aus dem Ersten Weltkrieg von mit einem Abschiednehmenden Liebespaar und der Volksliedstrophe "Liebchen ade! Scheiden tut weh".
"Maikäfer, flieg...": Musik-Propaganda im Ersten Weltkrieg
Im Ersten Weltkrieg wird Musik zur Waffe: Tausende Deutsche dichten patriotische und kriegsverherrlichende Lieder. "Druff wie Blücher" schallt es, und wieder "Es braust ein Ruf wie Donnerhall". Viele singen aber auch nur, um zu überleben.
08.11.2018
epd
Renate Kortheuer-Schüring

"Maikäfer flieg..." singen die Kinder auch im Sommer 1914. Als dann Anfang August der Erste Weltkrieg ausbricht, kommt eine wahre Flut von neuen Liedern dazu: Es sind freilich ganz andere - Lieder voller Heldenverehrung und Spott für den Feind, patriotisch, kriegsbegeistert.

Nie zuvor hatte es solch eine Politisierung des deutschen Musiklebens gegeben. "Die Musik diente zur Hebung der patriotischen Stimmung und zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls", sagt der Osnabrücker Musikprofessor Stefan Hanheide: Kein Konzert, keine Verkündung auf öffentlichen Plätzen, bei der nicht am Ende alle das "Deutschlandlied" anstimmten.

Im Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg, gegründet kurz vor Kriegsbeginn 1914, lagern heute rund 14.000 Kriegsgedichte und 3.000 Soldatenlieder. Nach Kriegsausbruch erschienen in den Zeitungen täglich neue lyrische Texte, oft mit bekannten Melodien: Lieder, die von nationalen Mythen und Kameradschaft handeln, aber auch vom Tod, von der Sehnsucht nach der Liebsten oder nach der Heimat. Viele zielen in "Hau-druff"-Mentalität zudem darauf ab, den Krieg zu verharmlosen und den Feind zu verunglimpfen.

Lieder erinnern Soladaten an friedliche Zeiten

Es gab im Ersten Weltkrieg keine zentral gelenkte militärische Propaganda. Aber die Musik übernahm - zusammen mit der Bildpostkarte - deren Funktionen, erklärt der Osnabrücker Musikwissenschaftler Dietrich Helms: Kaiserworte wurden vertont ("Es rufet der Kaiser sein Volk zum Schwert"), wichtige militärhistorische Daten ins Gedächtnis eingeprägt. Die Musik war "informelle Propaganda".

###mehr-artikel###

Zugleich diente sie aber auch als Trösterin. Briefe aus den Schützengräben belegen, wie Lieder bei der seelischen Verarbeitung von Gewalt und Trauer halfen. John Meyer, erster Leiter des Freiburger Archivs, notierte schon 1916, das Singen bewirke eine psychische Entlastung und trage so zur "Moral der Truppe" bei. 

An der Front in Frankreich oder Russland bedeutete Musik für die Soldaten ein Stück Heimat - Historikern zufolge der Grund für die Beliebtheit von Volksliedern. Sie weckten die Erinnerung an friedliche Zeiten. Auch der Abschied von daheim war fast immer von Musik und Gesang begleitet: "Muss i denn zum Städtele hinaus" war dabei wohl am populärsten.

In der Musik hat beides seinen Platz: Patriotismus und Unterhaltung

Protestantischen Kirchenliedern kam eine besondere Rolle zu: Sie galten nicht nur als Hilfe in seelischen Nöten, sondern auch in nationalen und militärischen, schreibt der Freiburger Theologe Michael Fischer. Luthers "Ein feste Burg", einer der am meistgesungenen Choräle, wurde durchweg mit Krieg und Militär in Verbindung gebracht. Als Kaiser Wilhelm II. am 1. August die Mobilmachung verkündete, stimmte die begeisterte Menge vor dem Berliner Schloss "Nun danket alle Gott" an, das schon nach dem Sieg über Frankreich in Sedan 1871 erklungen war.

"Lieder sind Wehr und Waffen, Luthers Lieder allzumal", schrieb der zeitgenössische Hymnologe Wilhelm Nelle. Allerdings sangen die Soldaten die Kirchenlieder eher selten spontan, sondern meist auf Kommando bei Gottesdiensten, Sieges- oder Totengedenkfeiern.  

Zwischen den Gefechten ertönten patriotische Lieder, aber auch pure Unterhaltungsmusik: "Es braust ein Ruf wie Donnerhall" ("Die Wacht am Rhein") und "Ich hatt einen Kameraden" waren am beliebtesten; sie gehörten mit "Heil Dir im Siegerkranz" und Hoffmann von Fallerslebens "Deutschland über alles" zum Kernrepertoire. Gassenhauer aus Operette und Schlager bildeten eine willkommene Ablenkung, etwa "Die Männer sind alle Verbrecher" aus Walter Kollos Operette - auch umgedichtet zu "Die Russen sind alle Verbrecher".

Musizieren für Kriegsopfer

Neue Kompositionen erinnerten an die Vergangenheit wie Galens Marsch "Druff wie Blücher", in Anlehnung an den preußischen Feldherrn Gebhard Leberecht von Blücher (1742-1819). Selbst moderne Waffentechnologie wie Krupps großkalibrige Kanone wurde besungen: "Dicke Berta heet ik...".

###mehr-links###

Das Musikleben um 1900 war überaus rege; es gab Männergesangvereine, Schulchöre, Kirchen- und Hausmusik. "Das Singen gehörte damals dazu", sagt Stefan Hanheide, "in Deutschland mehr als in irgendeinem anderen Land".  

Mit Wohltätigkeitskonzerten sollten diejenigen unterstützt werden, die unter Not und Kriegsfolgen besonders zu leiden hatten. Die dabei gespielte Musik zielte oft auf eine Heroisierung der eingezogenen Ehemänner und Söhne, deren Tod als Opfer für die Volksgemeinschaft galt. Das "Patriotische Tongemälde" von Johann Theimer etwa beinhaltet vom Schlachtgetümmel in "Lützows wilder verwegener Jagd" bis zum Geläut der Kirchenglocken und "Deutschland über alles" in einem Liederreigen fast alle einschlägigen Titel.

Maikäfer als Gegenbild zum Kriegsgeschehen

In den Schulen hatte eine nationale Erziehung seit Jahrzehnten das Ideal eines Mannes vermittelt, der siegreich für Kaiser und Vaterland kämpfte. Gesänge aus den Befreiungskriegen und vom deutsch-französischen Krieg 1871 standen in den Schulbüchern. Ein Liederbuch für Kinder aus dem Jahr 1915 enthielt neben dem alten "Lied eines deutschen Knaben" ("Mein Arm wird stark und groß mein Mut, gib, Vater, mir ein Schwert..."). Neues wie "Kühn voran, zieht die Fahn" auf die Melodie von "Hänschen klein".

Das Maikäfer-Lied entzieht sich solcher Instrumentalisierung. Kinder sangen es, wenn sie Maikäfer losließen, die sie zuvor gefangen hatten: "Maikäfer flieg, / Der Vater ist im Krieg, / die Mutter ist in Pommerland, / Pommerland ist abgebrannt, / Maikäfer flieg." Das Lied, das heute noch viele kennen, ist vermutlich im 16. Jahrhundert entstanden; seine Bedeutung bleibt letztlich rätselhaft: Es scheint sich darin inmitten einer lebensfeindlichen Welt eine fast absurde Hoffnung zu spiegeln.

Buchhinweis

Stefan Hanheide, Dietrich Helms, Claudia Glunz, Thomas F. Schneider (Hg.): Musik bezieht Stellung - Funktionalisierungen der Musik im Ersten Weltkrieg. Universitätsverlag Osnabrück, V&R unipress,  2013.

Dieser Text erschien erstmals am 8. Juni 2014 auf evangelisch.de