"Nein, ich schaue mir das Spiel nicht an, ich bin überhaupt nicht in WM-Stimmung." Nataraj Trinta sitzt entspannt auf einer abgesperrten Straße im Zentrum von Rio de Janeiro. Um sie herum zahlreiche Tische, vollbesetzt mit Fans in den brasilianischen Farben. Am Eingang der Kneipe ist ein großer Fernseher befestigt, Brasilien spielt gegen Mexiko, immer noch 0 zu 0.
###mehr-artikel###"Ich habe gerade Freizeit und wollte mich mit Freunden treffen," sagt Nataraj. Wenn WM ist und Brasilien spielt, stehe das Leben still. "Es gibt kaum einen Ort, wo man dem Fußball entrinnen kann", lächelt Nataraj. Der Trubel stört sie nicht, im Gegenteil, sie ist gerne unter Leuten, und die Fans stört es auch nicht, dass sie nicht mitfiebert.
Aber an der WM, da stört Nataraj vieles: "Das Spektakel lenkt die Menschen ab, während anderswo viel Schreckliches passiert. Gerade beginnen neue Kriege, Kinder leiden, in Syrien werden Frauen vergewaltigt." Auch in Brasilien werde die Jubelstimmung genutzt, um Dinge durchzusetzen, die sonst mehr Aufmerksamkeit erregen würden.
Sie erwähnt zwei Beispiele: In der WM-Stadt Recife ist heute letzte Woche eine Besetzung geräumt worden. Zahlreiche Menschen wurden bei dem harten Polizeieinsatz verhaftet. Im Hafenviertel wollten Aktivisten verhindern, dass alte Gebäude abgerissen werden, um neuen Büro-Hochhäusern Platz zu machen. Obwohl Besetzer und Behörden miteinander verhandelten, machte die Polizei kurzen Prozess.
Oder im Parlament: In Kürze wird darüber abgestimmt, ob die Finanzierung von Schwangerschaftsunterbrechungen, die in Brasilien nur in sehr wenigen Fällen - wie nach Vergewaltigungen - erlaubt sind, gekürzt werden soll. "Es sind immer die Rechte der Frauen, die im Parteienpoker unter die Räder kommen. Solche konservativen Initiativen kommen just dann zur Abstimmung, wenn die Leute nur an Fußball denken", beklagt Nataraj. Das Spiel im Fernseher interessiert sie wirklich nicht.
"Mit der Liebe zum Fußball kommt auch die Option von mehr Revolte zum Vorschein"
Nataraj ist Historikerin und arbeitet als Geschichtslehrerin. Ihr Vorname ist indianisch, ihr Nachnahme ganz mathematisch: die Zahl 30. Sie ist Feministin, und setzt sich in der "Articulação das Mulheres Brasileiras" für Frauenrechte und gegen Geschlechterdiskriminierung ein. Das Netzwerk vereint feministische Organisationen und Aktivisten aus allen Regionen Brasiliens.
###mehr-links###" Fußball ist immer auch eine Form, die Gesellschaft zu denken", erklärt Nataraj und denkt nach, trotz der angespannten Stimmung um sie herum. Brasilien spielt mittelmäßig, die Fans werden langsam unzufrieden. Auch die Anpassung an das Fußball-Spektakel sei zweideutig, überhaupt: "Brasilien ist das Land der Zweideutigkeiten. Mit der Begeisterung, der Liebe zum Fußball kommt auch die Option von mehr Revolte zum Vorschein." Seit dem Confed-Cup gebe es eine starke politische Mobilisierung, das komme nicht von ungefähr. "Wir stehen plötzlich im Mittelpunkt, unsere Meinung ist gefragt. Es ist ein Moment, in dem der Disput um politische Ideen besonders groß ist."