Der 4. Juni 1989: Das chinesische Militär schlägt in Peking auf dem Tian’anmen-Platz, dem Platz des Himmlischen Friedens, einen Volksaufstand blutig nieder. Studenten, Gewerkschafter, und Kinder sterben im Kugelhagel oder unter den Ketten der Panzer. Mindestens 2.600 Tote gibt es zu beklagen. Tausende werden verletzt.
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Genau 25 Jahre später, am 4. Juni 2014, ist es nur ein kleines Grüppchen, das sich vor dem chinesischen Konsulat in Frankfurt versammelt. Hier wollen sie der Opfer von damals gedenken und die chinesische Regierung auffordern, das Massaker endlich als ein solches anzuerkennen. Ihnen geht es aber noch um mehr: Sie wollen daran erinnern, dass in China die Meinungsfreiheit noch immer stark eingeschränkt ist. Ihre Solidarität gilt vor allem Liu Xiaobo, dem Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger, der seit 2009 im Gefängnis sitzt weil er sich in einem Manifest für die Durchsetzung der Menschenrechte in China eingesetzt hatte.
Die Demonstranten halten weiße Rosen oder Plakate mit dem Konterfei Liu Xiaobos in der Hand. Zwischen ihnen und dem Konsulat liegt die breite Stresemannallee, näher lässt die Polizei sie nicht heran. Es sind vor allem Exilchinesen, die heute hierher gekommen sind. Unter den Demonstranten ist aber auch der evangelische Pfarrer Roland Kühne. Zusammen mit fünf seiner Schülerinnen hat er sich auf dem Weg von Kempen am Niederrhein nach Frankfurt gemacht. Das sind 277 Kilometer, dreieinhalb Stunden Autofahrt. Finanziert haben die Schüler den Trip selbst. Letztes Jahr war Kühne mit 270 Schülern hier, doch diesmal waren die Planungen zu kurzfristig.
Menschenrechte lernen
Normal ist so ein Einsatz nicht, das weiß auch die Zwölftklässlerin Viviane: "Ich war schon an vielen Schulen, aber so etwas habe ich noch nie erlebt." Zu verdanken ist das natürlich vor allem Kühnes Engagement, doch ohne Rückendeckung von Schulleitung und Lokalpolitik könnte auch er nichts erreichen. Gegenwind gab es nur selten. Einmal hat der chinesische Konsul den Bürgermeister von Kühnes Heimatstädchen angerufen, mit der Aufforderung, dieser solle Kühne zurückpfeifen. Genutzt hat es nichts. Kühne und seine Schüler stehen wieder hier.
"Wir haben hier Meinungsfreiheit", sagt Viviane, "also genau das, was den Menschen in China fehlt. Ich finde, deswegen sollten wir unsere Meinungsfreiheit dafür einsetzen, ihnen zu helfen." Kühne will seine Aktion als aktive Pädagogik verstanden wissen. "Wenn man in der Schule etwas über das Demonstrationsrecht erfährt, dann weiß man vielleicht, dass es das gibt. Aber um es wirklich zu verstehen, muss man rausgehen und es anwenden."
Inzwischen hat sich einer der Demonstranten ein Megaphon geschnappt und skandiert laut Parolen auf Chinesisch. Seine Mitstreiter machen leidenschaftlich mit. Ein älterer Herr, der wie die die chinesische Version von Bertolt Brecht aussieht, lässt die Faust in den Himmel sausen.
Doch keine Reaktion aus dem gesichtslosen, kubistischen Bau, der das chinesische Konsulat beheimatet. Alles bleibt stumm. Als sich einmal ein Konsulatsmitarbeiter am Fenster zeigt, winken ihm die Demonstranten freundlich.
Auch wenn heute nur wenige erschienen sind, ist Tienchi Martin-Liuo zufrieden. Die Autorin ist seit 2009 Vorsitzende des unabhängigen, chinesischen PEN-Centers und darüber hinaus eine gute Freundin Liu Xiaobos. Sie hat die Protestveranstaltung organisiert.
Kommt Ai Weiwei frei?
"Die chinesische Regierung soll bloß nicht glauben, dass wir uns von ihrer Macht einschüchtern lassen. Deswegen sind wir hier", sagt Martin-Liuo. Trotz der vielen Verhaftungen von Oppositionellen hat sie schon das Gefühl, dass sich im Land etwas ändert. "Im Gegensatz zu früher gibt es heute jeden Tag Protestaktionen." Diese seien meist von konkreten Ereignissen motiviert. "Wenn Leuten das Haus weggenommen wird, oder Wanderarbeiter keine richtigen Versicherungen bekommen, dann gehen sie auf die Straße."
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Potenzial sieht Martin-Liuo auch in den neuen Medien. Dank Handykameras, Twitter und Facebook könne nicht mehr alles geheim gehalten werden. "Totale Zensur ist heute einfach nicht mehr möglich."
Aber wie steht es um die Zukunft des inhaftierten Nobelpreisträgers Liu Xiaobo, der ja Mittelpunkt der heutigen Veranstaltung ist? Es gebe Verhandlungen zwischen ihm und der chinesischen Regierung, weiß Martin-Liuo. Doch sie wie sie Xiaobo kenne, würde der keine Kompromisse eingehen, nur um frei zukommen.
Dann guckt sie auf einmal prüfend umher und flüstert mit einem schelmischen Lächeln: "Wissen Sie, es gibt Gerüchte, dass Ai Weiwei bald frei kommt. Aber das ist alles noch geheim." Ai Weiwei ist neben Xiaobo sicherlich der bekannteste chinesische Künstler, der massiven Repressalien ausgesetzt ist. Für seine Festnahme war China weltweit kritisiert worden.
Kirche ist mehr als Gottesdienst
Woher sie ihre Information hat, will Frau Martin-Liuo dann nicht mehr verraten. Es zieht sie nun selbst ans Megaphon. Jetzt wird auch auf Deutsch skandiert, auch wenn die chinesischen Demonstranten immer wieder über die deutschen Worte stolpern. Dafür können jetzt Kühnes Schülerinnen alles geben – was sie sich auch nicht nehmen lassen. "Freiheit für Liu Xiaobo", rufen sie. Beim Konsulat auf der anderen Straßenseite schließt man derweil das schwere eiserne Tor.
Kühne ist hier auch aus religiösen Gründen, sagt er. "Kirche ist eben nicht nur Gottesdienst. Sie muss sich für die Belange der Menschen einsetzen." Das möchte er auch seinen Schülern beibringen. Das ist ihm gerade im Themenjahr "Politik" der Reformationsdekade besonders wichtig.
Am Ende der Demonstration macht sich eine der Schülerinnen aus Kempen allerdings plötzlich Sorgen, weil sie mit der Presse geredet hat: "Wenn ich mich später für einen Job bewerbe, könnte es zum Problem werden, dass ich hier gegen China demonstriert habe." Die Angst vor der Macht Chinas reicht sogar bis nach Kempen am Niederrhein.