Es war doch nur Regen. Nichts Ungewöhnliches. Klar, sie hatte die Meldungen über Hochwasser gehört. Aber das betraf ja nur die Regionen mit großen Flüssen. Nicht sie hier auf dem Land. Zehn Kilometer von der Elbe entfernt.
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Dann wurde es auf der Straße nass. Das war nicht der Regen. Ein Rinnsaal floss über den Asphalt. Und über ihre Wange. Nein, bitte nicht. Heul nicht, hatte sie ihr Mann angeherrscht. Es ist nur Wasser. Ja, nur Wasser. Immer mehr Wasser. Und noch mehr. Jetzt kamen sie mit großen LKW-Ladungen mit Sandsäcken. Keiner hatte geglaubt, dass es sie treffen könnte. Heute vor einem Jahr. Nur sicherheitshalber hatten sie ihre Türen verbarrikadiert. Dann stieg das Wasser. Leise. Fast unmerklich. Aber immer bedrohlicher. Es stieg über die Sandsäcke. Es stieg in ihrem Herzen. Ihr Haus, ihr ganzer Stolz. Zwei Kinder hatte sie hier großgezogen. Die Oma gepflegt bis zum Schluss. Hier wollte sie alt werden.
Jetzt, ein Jahr später, sitzt sie am Tisch der kleinen Wohnung im Nachbardorf. Ihr Haus – es ist immer noch nicht fertig. Es fehlt an Geld und Kraft. Und Perspektive. Ihr innerer Pegel ist nicht gesunken. Der ganze Schlamm, den sie über Wochen versucht hatte, aus dem Haus zu bekommen – er scheint sich eingenistet zu haben. Immer kam aus irgendwelchen Ritzen die braune Brühe, später der braune Dreck. So eklig, es war so eklig. Alles hinüber. Die Möbel, die Wäsche. Selbst die Bilder haben gestunken. Die inneren Schlammmassen haben sich ebenfalls in allen Ecken eingenistet. Ihre Tränen spülen und spülen und konnten sie nicht hinausschwemmen. Die Seele bleibt kontaminiert.
Lass deine Raben ausfliegen, später deine Tauben
Auf dem Tisch steht eine Schale Obst. Der Apfel sieht gut aus, lange Zeit. Bis ein Riss alles kaputt macht. Ein Riss. Ein Einschnitt, und der ganze Apfel fault. Die Flut hat ihre Außenhaut eingeritzt, jetzt hat jede Krankheit leichtes Spiel. Jeder Keim: Die Unzufriedenheit, der Neid, die Missgunst, das Selbstmitleid. Sie schämt sich für sich selbst, wenn sie sich zuhört. Das kann doch nicht sein. Noah war auch nur 40 Tage in der Arche, dann war die Flut zu Ende, oder nicht?
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Der Pastor ist ein Netter. Er schaut immer mal vorbei. Nein, nach 40 Tagen war die Flut bei Noah nicht vorbei. Er holt seine Bibel aus der Tasche und blättert und liest:
Da verliefen sich die Wasser von der Erde und nahmen ab nach hundertundfünfzig Tagen. Am siebzehnten Tag des siebenten Monats ließ sich die Arche nieder auf das Gebirge Ararat. Es nahmen aber die Wasser immer mehr ab bis auf den zehnten Monat. Am ersten Tage des zehnten Monats sahen die Spitzen der Berge hervor. Nach vierzig Tagen tat Noah an der Arche das Fenster auf, das er gemacht hatte, und ließ einen Raben ausfliegen; der flog immer hin und her, bis die Wasser vertrockneten auf Erden. Danach ließ er eine Taube ausfliegen, um zu erfahren, ob die Wasser sich verlaufen hätten auf Erden. Da aber die Taube nichts fand, wo ihr Fuß ruhen konnte, kam sie wieder zu ihm in die Arche; denn noch war Wasser auf dem ganzen Erdboden. Da tat er die Hand heraus und nahm sie zu sich in die Arche. Da harrte er noch weitere sieben Tage und ließ abermals eine Taube fliegen aus der Arche. Die kam zu ihm um die Abendzeit, und siehe, ein Ölblatt hatte sie abgebrochen und trug's in ihrem Schnabel. Da merkte Noah, dass die Wasser sich verlaufen hätten auf Erden. (1. Mose 8, 3-11)
Sie seufzt. Es dauert, sagt der Pastor, und legt seine Hand auf ihre. Die Flut dauert. Bis sich die Flut zurückzieht, dauert es. Bis man wieder die Luke seiner Arche öffnen kann, dauert es, bis die Taube Frieden verkündet, dauert es auch. Und bis man dann den Regenbogen sehen kann, das braucht seine Zeit. Hab Geduld. Lass deine Raben ausfliegen, später deine Tauben. Suche, ob es trockene Zweige gibt, die vielleicht schon grünen. Und – ja – es gibt einen Regenbogen. Du bist hindurchgekommen. Wie immer deine Arche heißen mag.