Eigentlich müsste ein evangelischer Pfarrer es hier in der Gegend leicht haben. Schließlich liegt Ruhla gewissermaßen im protestantischen Kernland. Nicht mal eine halbe Stunde fährt man bis zur Wartburg, wo ein gewisser Junker Jörg, auch bekannt als Doktor Martinus Luther, die Bibel übersetzte. Nur ein paar Kilometer weiter in Eisenach steht die Kirche, in der Johann Sebastian Bach getauft wurde – auch er kaum aus der evangelischen Kultur wegzudenken. Und trotzdem: Wer Pfarrer Gerhard Reuther aus Ruhla nach seinen Schäfchen fragt, hört ihn seufzen.
936 Mitglieder hat die Evangelische Kirchengemeinde St. Concordia nach letzter Zählung noch – als Gerhard Reuther vor zehn Jahren nach Ruhla kam, waren es etwa 1300. Und das ist der Grund: Sechs Beerdigungen hat er dieses Jahr bis Ende Mai schon hinter sich gebracht – und nur eine Taufe. Der Schwund hat viel mit demografischem Wandel und Arbeitsplatzmangel zu tun. Das Durchschnittsalter der Gemeindemitglieder liegt bei Mitte 50. Junge Menschen hält nicht allzu viel in Ruhla. Aber selbst die, die bleiben, haben mit der Kirche oft nicht viel zu schaffen, erzählt Pfarrer Reuther. "Sie glauben selbst nicht – warum also sollen ihre Kinder glauben?"
Doch Reuther stemmt sich gegen diesen Trend – gemeinsam mit der Gemeindekatechetin Angela Lange und der Ehrenamtlichen Aurita Seyfried. An diesem Montag brechen sie wieder gemeinsam auf in ein buntes Haus am Ende des Tals: den städtischen Kindergarten "Krümmespatzen".
Theologisch hochspannende Fragen
Zehn Kinder, von ganz klein bis fast schon Grundschule, sitzen mehr oder weniger still auf zehn Miniaturstühlen. Pfarrer Reuther hat seine Gitarre mitgebracht. Los geht's mit einem Begrüßungslied – und jedes Kind kommt mal vor. Die ganz Kleinen hören eher staunend zu, die größeren klatschen mit und bestehen am Ende darauf, dass nach "Frau Lange" und "Frau Seyfried" auch noch die Gitarre begrüßt wird. Im nächsten Lied werden nacheinander Gottes Liebe und seine Barmherzigkeit als groß und wunderbar gepriesen.
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"Was kann denn noch groß sein an Gott?", fragt Pfarrer Reuther seine Kollegin sinnierend zwischen zwei Strophen. "Gottes Kreuz!", schreit Bjarne, fast 6, dazwischen. "Echt?", staunt Pfarrer Reuther. "Okay!"
Immer wieder gebe es solche schönen Momente, berichten Katechetin und Pfarrer, in denen die Kinder ganz von alleine auf theologisch hochspannende Ideen und Fragen kämen: Ob es die Hölle wohl wirklich gibt zum Beispiel, oder wofür man beten kann, wenn einen etwas bedrückt. "Kinderstunde" heißt diese Veranstaltung am frühen Nachmittag offiziell – "Bibelstunde" nennen die Kinder sie beharrlich, erzählt die Katechetin lachend. Dabei sei sie explizit als niederschwelliges Angebot konzipiert.
"Was die Kinder nicht kennen, das können sie auch nicht wählen"
Niederschwellig, das heißt: Kein Kind muss beim Gebet die Hände falten, die Augen schließen und in Bewegungslosigkeit verharren – einfach nur zuhören, was der Pfarrer betet, reicht aus. Und der relativ komplexe Bibeltext über Jesu Himmelfahrt wird eingerahmt durch einen Dialog zwischen Aurita Seyfried und einem Handpuppenschaf namens Wolle.
Preisfrage: Wer ist nicht zu sehen, aber trotzdem da? So wie der Wind? Abermals ist es Bjarne, der nicht an sich halten kann. Er weiß offenbar schon genau, wie das läuft in der Kirche: "Das ist bestimmt Gott!" Die Antwort, die ja sonst quasi immer stimmt, ist diesmal nur fast richtig: Es geht um den Heiligen Geist. Highlight und Abschluss der Veranstaltung ist ein Spiel, bei dem die Kinder mit einem Strohhalm – oder, je nach Neigung, auch einfach ohne – einen Wattebausch um die Wette über den Boden pusten. Da ist er wieder, der Wind. Sogar die dreijährige Valentina taut auf und meldet sich freiwillig zur Teilnahme.
"Voll Sack-Floh-technisch drauf" seien die Kinder manchmal, schmunzelt Pfarrer Reuther. "Aber wir kommen hier nicht als Erzieher hin. Wir wollen, dass die Kinder die Wahl haben: Kirche oder nicht. Was sie nicht kennen, das können sie auch nicht wählen." Viele Eltern, die selbst nicht zur Kirche gingen, erklärten ihm bei der Geburt, dass ihr Kind selbst entscheiden solle, ob es getauft werden will. "Diese Eltern sieht man dann normalerweise bis zur Taufe – wenn sie denn stattfindet – nie wieder." Er frage sich, warum Eltern für ihre Kinder alles entschieden – von der Schule bis zur Ernährungsweise. Nur bei der Kirche seien die Kinder auf einmal auf sich allein gestellt.
Immerhin: Die Kinderstunde bei den "Krümmespatzen" zeigt nach fünf Jahren erste Erfolge. In diesem Jahr sind erstmals sechs Kinder vom Kindergarten in die Grundschule gewechselt, die nun auch regelmäßig zur Christenlehre kommen – weil sie die Kirche schon aus dem Kindergarten kennen. So wie die siebenjährige Maria. In der Kinderstunde habe ihr immer das Malen zu den Bibelgeschichten am meisten Spaß gemacht, erzählt sie, "weil mir die Farben von den Stiften so gut gefallen haben". Seit einem Jahr geht sie zur Schule und in die Christenlehre im Pfarrhaus. "Ich wollte das unbedingt ausprobieren. Wir machen da genau so schöne Sachen wie in der Kinderstunde."
Marias Mutter gehört selbst auch zur Kirche. Das ist bei vielen Eltern der Kindergartenkinder anders. Derzeit kämpft Katechetin Angela Lange mit vielen Abmeldungen von Kinderstunde und Christenlehre. Sie erzählt von einem Fall, in dem ein Mädchen in Tränen ausgebrochen sei, weil es unbedingt kommen wollte, aber ihre Eltern es ihr verboten. Beim letzten Elternabend im Kindergarten, so hat Lange erfahren, hätten sich nur wenige Eltern für die Kinderstunde ausgesprochen. Vielleicht, weil sie so etwas in einer städtischen Einrichtung nicht erwarten. Eine evangelische Kita hat Ruhla nicht. Nur sein guter Draht zur Leiterin der Einrichtung und zur Stadt als Trägerin ermöglicht dem Pfarrer seine Aktivitäten.
"Was nicht bei drei auf den Bäumen ist, das tauft er!"
Doch alles in allem sind Angela Lange und Gerhard Reuther zufrieden. "Das ist ein ganz kleines Pflänzchen", sagt Reuther, "was mal langsam, mal schneller wächst – je nachdem, wie die Wetterlage gerade ist". Auch, wenn nur zwei oder drei Kinder pro Jahr dazukämen, sei das ein Erfolg – und zwar vor allem für die Kinder selbst. "Das hält den Rückgang bei den Gemeindemitgliedern nicht auf. Aber wir werden trotzdem weitermachen: anbieten, uns einen Kopf machen."
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Wen er einmal am Haken habe, sagt Menschenfischer Reuther mit einem Augenzwinkern, den lasse er nicht mehr weg. "Ja, ja", nickt Angela Lange und mixt die Metaphern: "Was nicht bei drei auf den Bäumen ist, das tauft er!" Beide lachen. Der Erfolg gibt ihnen Recht: Dieses Jahr wird es noch mindestens sechs Taufen in St. Concordia geben – das ist etwa doppelt so viel wie in den vorangegangenen Jahren. Und viele Täuflinge kennen Reuther und Lange schon – aus der Arbeit mit den Kindern.