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Europa bedeutet Vielfalt. Flüchtlinge aber müssen froh sein, wenn sie überhaupt ein Land aufnimmt.
"Wer Europa nützlich ist, darf bleiben"
Die Asylpolitik Deutschlands ist umstritten, die Debatte um Flüchtlinge brisant und oft durch Vorurteile und Klischees bestimmt. Wir haben ein paar Fakten zusammengetragen und einen Experten nach seiner Einschätzung gefragt, wie unsere Lebensweise und die Dublin-Verordnung den Flüchtlingen das Leben schwer machen. Außerdem: Was der Einzelne tun kann, um Flüchtlingen zu helfen.

Ist Deutschland innerhalb der EU das Asyl-Land Nummer eins?

Laut Statistischem Amt der Europäischen Union (Eurostat) haben im Jahr 2013 rund 435.000 Menschen in den 28 EU-Staaten einen Asylantrag gestellt. Im Ländervergleich stellten tatsächlich die Meisten einen Asylantrag in Deutschland, nämlich knapp 30 Prozent, das waren rund 127.000 Asylanträge. Danach folgten Frankreich (15 Prozent der Anträge), Schweden (13 Prozent), Großbritannien (7 Prozent) und Italien (6 Prozent).

Betrachtet man hingegen, wie viele Menschen sich im EU-Vergleich in Deutschland in Relation zur Einwohneranzahl um Asyl bewerben, sieht die Sache anders aus. Während beim Spitzenreiter Schweden 5.700 Asylbewerber auf eine Million Einwohner kommen und in Malta der Wert bei 5.300 liegt, kommen in Deutschland 1.600 Asylbewerber auf eine Million Einwohner. Der EU-Durchschnitt liegt laut den Daten bei 860 Bewerbern je Million Einwohnern.

Schon 2012 hatte Deutschland im EU-Vergleich keinen Spitzenplatz bei den Asylbewerberzahlen pro Einwohner. Laut Eurostat kam 2012 weniger als ein Asylbewerber auf 1.000 Einwohner. Damit lag Deutschland im EU-Vergleich nur auf dem zehnten Platz. Zum Vergleich: In Malta und Schweden kamen etwa fünf Asylbewerber auf 1.000 Einwohner. Luxemburg und die Schweiz hatten in diesem Zeitraum etwa vier Bewerber pro 1.000 Einwohner. Allerdings war bei all diesen Anträgen noch nicht entschieden, ob die Menschen in einem der Länder bleiben dürfen oder in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. Besonders wenige Asylbewerber gab es in Estland, Spanien und Portugal.

Wie viele Bewerber haben Asyl in Deutschland bekommen?

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat 2013 über knapp 81.000 der 127.000 Anträge entschieden. Ein Viertel der Fälle, das waren etwa 20.000 Menschen, bekam einen positiven Bescheid. Das heißt, diese Flüchtlinge haben in Deutschland Asyl bekommen oder durften zumindest nicht abgeschoben werden. Allerdings brauchten die Asylbewerber Geduld, bis ihr Fall entschieden war: Im Schnitt dauerte es über sieben Monate, bis das Bundesamt im vergangenen Jahr einen Asylantrag bearbeitet hatte. In der gesamten EU wurde 2013 rund ein Drittel der Asylanträge positiv entschieden.

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Rund 40 Prozent der Asylanträge an Deutschland wurden abgelehnt – was allerdings nicht automatisch bedeutet, dass diese Menschen nicht auch aus katastrophalen Verhältnissen kommen. Zusätzlich zu den abgelehnten Anträgen fand bei über einem Drittel überhaupt keine inhaltliche Prüfung statt, weil der Antrag für nicht zulässig befunden wurde, also Deutschland nicht für das Asylverfahren zuständig war. Dabei kommt die Dublin-Verordnung zum Tragen – die europäische Verordnung, die regelt, welches Land für ein Asylverfahren zuständig ist. Laut dieser Verordnung ist das immer das Land, über welches die Flüchtlinge nach Europa kommen oder welches die Einreise zumindest nicht verhindert hat ("Verursacherprinzip"). Das sind naturgemäß oft EU-Außenstaaten wie Malta, Ungarn oder Italien.

Warum haben die Länder an den europäischen Außengrenzen die Dublin-Verordnung nicht verhindert?

"Das ist nicht ganz klar", sagt Andreas Meyerhöfer. Er hat an der Studie "Staatsprojekt Europa" mitgearbeitet und dort zur europäischen Migrationspolitik geforscht. Ein Grund ist seiner Ansicht nach, dass einige Staaten, die heute die Konsequenzen der Dublin-Verordnung spüren, diese gar nicht mitverhandelt haben. Denn das "Dubliner-Übereinkommen", ein Vorläufer der heutigen Verordnung, wurde schon 1990 von den damaligen zwölf EG-Mitgliedsstaaten unterzeichnet, trat aber erst sieben Jahre später in Kraft – auch ein Zeichen dafür, dass es durchaus Widerstand gab.

Als sich die EU ausweitete und die Verordnung beschlossen war, mussten die Beitrittsländer wie beispielsweise Malta diese Regelungen in Kauf nehmen, um beitreten zu dürfen. Für solche Länder war die EU aus wirtschaftlichen Gründen und wegen der damit verbundenen Freizügigkeit aber dennoch attraktiv.

Meyerhöfers Meinung nach nutzen viele EU-Außenstaaten die Dublin-Verordnung heute als einen Vorwand, ihre teils nicht funktionierenden Asylsysteme gar nicht erst richtig aufzubauen, es sei denn, andere europäische Staaten unterstützen sie dabei. So versuchen die Außenstaaten, andere Länder mit in die Verantwortung um die Flüchtlingsproblematik zu nehmen.

Schottet sich Europa immer stärker nach außen ab?

"Viele Menschen haben das Bild einer Mauer im Kopf, wenn sie über eine Grenze reden", berichtet Meyerhöfer. "In Europa haben Grenzen unserer Auffassung nach aber eher die Funktion eines Filters: Manche Menschen sollen gerne kommen, andere draußen bleiben." Gern gesehen seien Hochgebildete, die Europa im globalen Wettbewerb dienlich sind, ebenso wie Menschen, die durch ihr Geld die Wirtschaft ankurbelten oder Einwanderer, die niedrig qualifizierte Jobs machten. Kurz gesagt alle Menschen, die Europa von Nutzen sind.

In Meyerhöfers Bild beginnt die Ausgrenzung schon vor den Landesgrenzen. "Wer in die EU einreisen möchte, muss in seinem Herkunftsland beispielsweise ein Visum beantragen. Schon das ist Teil der Selektion und insofern Grenze", sagt er.

Im globalen Kontext fliehen vergleichsweise wenige Menschen in die EU

Laut dem aktuellen Bericht der UN-Flüchtlingskommission (UNHCR-Bericht "Global Trends") gab es weltweit 2012 so viele Flüchtlinge und Binnenvertriebene wie seit 1994 nicht mehr, vor allem der Konflikt in Syrien spielt eine Rolle. 2012 waren insgesamt über 45 Millionen Menschen auf der Flucht, die Hälfte davon war unter 18 Jahre alt. Die große Mehrheit der Flüchtlinge lebt allerdings nicht in Europa, sondern in Entwicklungsländern. Am meisten Flüchtlinge hielten sich 2012 in Pakistan auf (1,6 Millionen), gefolgt vom Iran (rund 868.000). Auf dem dritten Platz lag Deutschland mit rund 590.000 Flüchtlingen.

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Meyerhöfer weist darauf hin, dass die meisten Flüchtlinge keine Mittel haben, um nach Europa zu fliehen und daher als Binnenvertriebene in ihrem Heimatland bleiben. Menschen, die ihre Flucht nach Europa doch antreten, scheiterten oft, weil ihnen Geld, Informationen und Kontakt zu Personen oder Institutionen fehlten. Meyerhöfer sagt: "Wer es nach Europa schafft, gehört verglichen mit anderen Flüchtlingen nicht zu den Ärmsten der Armen, sondern ist fast schon 'privilegiert', weil er überhaupt bis nach Europa kommt." Wer es schafft, will gern auch bleiben: Von knapp 890.000 Asylanträgen weltweit im Jahr 2012 wurden 44 Prozent an die EU-Länder gestellt.

Welchen Einfluss hat unsere Lebensweise auf die Situation der Flüchtlinge?

Europa hat viele Probleme selbst verursacht, die jetzt dazu führen, dass Menschen in ärmeren Ländern der Erde in unerträglichen Verhältnissen leben und fliehen müssen.

Eine Ursache sehen Meyerhöfer und seine Kollegen darin, dass viele Deutsche günstige Kleidung oder Lebensmittel kaufen, die unter schlechten sozialen und ökologischen Bedingungen produziert wurden. "Auch in Deutschland können sich Viele keine teuren Waren leisten, aber das ist natürlich kein Vergleich beispielsweise zu Bangladesch, wo Menschen unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten", gibt Meyerhöfer zu bedenken.

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Selbst fair gehandelte Güter wie Kaffee, Kleidung oder sogar Mobiltelefone sind aus seiner Sicht nur eine kurzfristige Lösung, weil die Produzenten trotzdem vom Geldbeutel der Reicheren abhängen.

Aus Sicht der Hersteller sei es verständlich, dass sie möglichst günstig produzieren wollen, um maximalen Gewinn zu erzielen. Länder wie Deutschland seien darauf angewiesen, Konsumgüter in anderen Ländern günstig zu produzieren, um den eigenen Reichtum zu sichern. Schon allein aus ökologischer Perspektive sei es nicht möglich, dass alle Länder der Erde so wohlhabend sind wie die Industrienationen.

Viele Konflikte, die Menschen heute zur Flucht zwingen, hätten ihren Ursprung darüber hinaus in der Kolonialzeit, denn einige Länder in Asien, Afrika oder Lateinamerika waren bis vor wenigen Jahrzehnten europäische Kolonien, die ausgebeutet und unterdrückt wurden.

Was muss sich an der Flüchtlingspolitik ändern?

Aus Meyerhöfers Sicht muss es für Flüchtlinge mehr legale Einwanderungsmöglichkeiten nach Europa geben. Für die meisten sei es teuer und fast unmöglich ein Visum zu bekommen, weil die Einreiseländer die Flüchtlinge nicht dauerhaft aufnehmen wollten. "Menschen, die mit Booten übers Meer fliehen, machen das nicht freiwillig, sie fliehen vor Krieg und Armut. Früher konnten Flüchtlinge an der Straße von Gibraltar nach wenigen Kilometern Land erreichen. Heute sind die Grenzen dort so stark gesichert, dass die Fluchtrouten länger und gefährlicher werden", sagt Meyerhöfer.

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Es sei notwendig, dass für Asylsuchende europaweite Freizügigkeit gelte, genau wie für EU-Bürger auch. Die Flüchtlinge sollten sich selbst aussuchen können, in welchem Land sie ihren Asylantrag stellen, um möglichst gute Chancen auf einen positiven Bescheid zu haben, aber auch, um zu wählen, in welchem Land sie schlussendlich leben wollen.

Gerade deutsche Politiker argumentierten oft, eine EU-weite Freizügigkeit führe dazu, dass besonders viele Flüchtlinge nach Deutschland kämen, um von den hohen Sozialleistungen zu profitieren. Laut Meyerhöfer hat die Migrationsforschung allerdings belegt, dass Faktoren wie vorhandene Sprachkenntnisse, Kontakt zu Verwandten in einem europäischen Staat und die Möglichkeit, eine eigene Existenz aufzubauen, eine viel entscheidendere Rolle spielen als Sozialleistungen.

Was kann der Einzelne tun, um Flüchtlingen zu helfen?

Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Der Experte empfiehlt, sich zu erkundigen, wie die Situation der Flüchtlinge vor Ort ist. In vielen Städten gibt es Flüchtlingsunterkünfte, die aber oft schwer zu finden sind. Flüchtlingsberatungsstellen von Organisationen wie Pro Asyl, Diakonie und Caritas können Kontakt zu Flüchtlingen herstellen und Tipps geben, welche Hilfe gebraucht wird. Lehrer könnten Deutschunterricht geben, Ärzte könnten sich um die medizinische Versorgung kümmern, andere könnten ein Zimmer vermitteln, denn viele anerkannte Flüchtlinge seien einfach auf der Suche nach einer Bleibe.

Aus eigener Erfahrung berichtet Meyerhöfer, dass es hilft, mit den Flüchtlingen auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen und sich ihre Geschichte anzuhören. "Dann wird deutlich, welche Torturen diese Menschen hinter sich haben, man merkt, dass viele Vorurteile nicht stimmen. Es ist eine Chance, diese Menschen nicht nur als Opfer zu sehen, sondern als Menschen wie du und ich."

Wer mitbekommt, dass Flüchtlinge demonstrieren, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen wie in Hamburg, Berlin, München und Frankfurt, kann sich dazugesellen und Solidarität mit den Flüchtlingen und Asylbewerbern zeigen.

Eine weitere Möglichkeit: In seiner eigenen Gemeinde für Kirchenasyl werben. Denn Deutschland hat laut der Dublin-Verordnung ein halbes Jahr lang Zeit, um die Flüchtlinge abzuschieben, wenn festgestellt wurde, dass ein anderes Land für das Asylverfahren zuständig ist. Danach wird Deutschland für das Verfahren zuständig. Ein paar Monate Kirchenasyl sind für die Flüchtlinge also eine Chance auf eine bessere Zukunft, denn Asyl in einer Kirchengemeinde wird von den Behörden in der Praxis meistens nicht aufgelöst. Einige Kirchengemeinden haben bereits Erfahrung mit Kirchenasyl und helfen bestimmt gerne weiter. Auch ein Blick auf diese und andere Internetseiten lohnt.