Psychologin Gabriela im Gespräch mit Einwohnern auf den Hügeln von Valparaíso
Foto: JürgenSchübelin/Kindernothilfe
Die Psychologin Gabriela vom Team des Kindernothilfe-Partners ACHNU ist jeden Tag auf den Hügeln unterwegs, um mit den Kindern und ihren Eltern zu sprechen.
Trost und Kakao für die Kinder von Valparaíso
In den abgebrannten Hügeln der historischen Hafenstadt Valparaíso hausen die Menschen zwischen Planen und Pressspanplatten. Besonders die Kinder sind traumatisiert, weil ihre gewohnte Umgebung durch das Feuer am 12. und 13. April komplett zerstört wurde. Eine Partnerorganisation der Kindernothilfe bietet den Kindern einen sicheren Raum und therapeutische Hilfe an.
24.05.2014
Kindernothilfe

Die Adresse steht auf einem Blatt Papier – Los Chonos 86 B – an einen Wellblechzaun geklebt, dazu eine Handy-Nummer. Darüber ein Hilferuf: "Eine Hütte – dringend! Bitte! Unsere Kinder brauchen ein Dach über dem Kopf." Seit vier Wochen lebt Familie Díaz nun schon in einer provisorischen Behausung aus Plastikplanen und einem winzigen Zelt.

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Alles, was das gewaltige Feuer vom 12. und 13. April von ihrem kleinen Haus auf dem Cerro Las Cañas übrig gelassen hat, sind 15 von der Hitze verformte und verbeulte Wellblechplatten, feinsäuberlich aufgestapelt. Sieben Mal haben sie bereits die endlosen Fragebögen und Formulare ausgefüllt, um eine Notunterkunft zu erhalten. Bislang ist nichts geschehen. 

Estrella Díaz, die an jenem apokalyptischen Samstagabend allein mit ihren Kindern zu Hause war, schaffte es im allerletzten Moment, mit ihren kleinen Jungs die enge, kurvige  Straße hinunter zu rennen, ehe die Flammenwand sie erfassen konnte. Ein älteres Ehepaar in der Nachbarschaft hatte weniger Glück und starb in dem kleinen Häuschen, das jahrelang sein Zuhause gewesen war. "Es ging alles so entsetzlich schnell", berichtet eine der Nachbarinnen, "innerhalb einer Minute erfasste das Feuer hier in unserer Straße zehn Häuser hintereinander. Wir hatten keinerlei Chance, irgendetwas zu retten."

Der Schock sitzt tief

Das Ausmaß der Verwüstungen dieser Feuerwalze kann nur nachvollziehen, wer zu Fuß auf den die sechs abgebrannten Hügel unterwegs ist. Das Inferno vernichtete innerhalb von Minuten alles, was sich die Menschen in Jahren aufgebaut hatten. Die kleinen engen Täler, die die Hügel oberhalb von Valparaíso durchfurchen, wirkten wir Kamine, durch die der Wind vom Pazifik her den Flammen immer wieder neu anfachte. Und die zahlreichen Eukalyptus-Bäume verwandelten sich mit ihren ätherischen Harzen in riesige Fackeln, die die gewaltige Hitzeentwicklung noch verstärkten. Von all dem ist in weiten Teilen nur der blanke Boden übriggeblieben, ohne jegliche Vegetation.

Viele Familien haben sich aus Plastikpla?nen und Zelten Notunterkü?nfte gebaut.

Etwas mehr als einen Monat nach dem verheerenden Großbrand, der 15 Menschenleben gekostet und über 13.000 Bewohner der Viertel auf sechs Hügeln oberhalb der chilenischen Hafenstadt Valparaíso obdachlos gemacht hatte, ist das Chaos und auch eine gewisse Willkür bei der Verteilung von staatlicher Hilfe und Unterstützung augenfällig. Die Katastrophe machte erneut auf schmerzhafte Weise deutlich, wie begrenzt, prekär und unkoordiniert die Kriseninterventionsmechanismen der zuständigen staatlichen Institutionen funktionieren.

Wie sehr der Schock über das Erlebte den Menschen von den cerros in den Knochen sitzt, wird deutlich, wenn man mit den Kindern im Centro Comunitario Las Cañas zusammen ist. Dort hat der Kindernothilfepartner ACHNU (Asociación Chilena pro Naciones Unidas) mit Spenden aus Deutschland ein Projekt für traumatisierte Kinder ins Leben gerufen, angeleitet und beraten von dem erfahrenen Team der chilenischen Kindernothilfe-Partnerorganisation ANIDE. Bereits wenige Tage nach dem Großbrand wurde damit begonnen, ein Kinderzentrum aufzubauen, in dem zur Zeit 120 Mädchen und Jungen betreut werden, die mit ihren Familien wieder auf den Hügel zurückgekehrt sind.

Mal hyperaktiv, mal apathisch

Das kleine Gemeindezentrum ist das einzige Gebäude in ganzen Umkreis, das kein Raub der Flammen wurde. Das ACHNU-Team arbeitet in einem der Räume mit den Kindern, die an diesem Vormittag gekommen sind. Jeanette und Jota, zwei Theaterleute, spielen den Kindern kleine Geschichten vor, in denen es in Variationen immer um das gleiche Thema geht – nämlich darum, dass Kinder es den Erwachsenen zeigen und in absolut aussichtslosen Lagen mit kreativen Einfällen in der Lage sind, das Blatt zu wenden. Mitten im Spiel hängen sich zwei Jungs wie die Kletten an Jeanette, die sie behutsam wieder an ihren Platz begleitet. Hinterher gibt es etwas zu essen und Kakao zu trinken, dann stürmen die Kinder mit einem der Betreuer und einem zerknautschten Fußball aus dem Raum, um draußen zu kicken.

Die behelfsmäß?igen Behausunge?n der Valparaíso-Bewohner bestehen aus Pressspanplatten?. Sie werden kaum mehr als einen Winter überstehen.

Gabriela, eine der Psychologinnen aus dem ACHNU-Team, kennt diesen Hyperaktivismus – aber auch Phasen von Apathie und Aggressivität – inzwischen genau: Die Kinder leben immer noch in einem permanenten Ausnahmezustand. Ihre Welt, so wie sie vor dem Feuer aussah, gibt es nicht mehr. Das auf sechs Monate angelegte Programm, das Kindernothilfe unterstützt, will die betroffenen Kinder psychisch stabilisieren und ihnen helfen, ihre traumatischen Erlebnisse während und nach der Katastrophe zu verarbeiten.

Dazu gehört aber auch eine enge Kooperation mit den Lehrerinnen und Lehrern an den Schulen rund um die niedergebrannte Fläche und deren Weiterbildung, um im Unterricht mit Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Verletzungen der Kinder angemessen umgehen zu können. Wie dringend notwendig die Unterstützung der Lehrerkollegien und Schulleitungen ist, machen die ACHNU-Erfahrungen der zurückliegenden Wochen deutlich: "Wir haben miterlebt, wie Kinder vom Cerro Las Cañas plötzlich mutterseelenallein in Schulen in ganz anderen, weit entfernten Stadtteilen von Valparaíso geschickt wurden", berichtet Kentyi Cheung vom ACHNU-Team, "und darauf extrem verunsichert und eingeschüchtert reagierten". Ein kleiner Junge aus dem ACHNU-Betreuungsprogramm versteckte sich sogar morgens, um nicht in eine fremde Schule zu müssen. "Alles, was für die Kinder in dieser Situation zusätzlichen Stress bedeutet, was sie zusätzlich verunsichert" ist Kentyi überzeugt, "müssen wir unbedingt verhindern".

Fotos kommen gut an

Zwei weitere Kinderzentren wird ACHNU in den kommenden Tagen eröffnen – insgesamt sollen durch dieses Humanitäre Hilfe-Projekt, dem das Team den Namen "Sichere Räume für Kinder" (Espacios Seguros para Niños) gegeben hat, 2000 Mädchen und Jungen erreicht werden. Das Problem ist bislang, auf den Hügeln von den Flammen verschonte Räume zu finden, in denen mit den Kindern gearbeitet werden kann. Deshalb finden ganz viele der Aktivitäten, solange die Witterung es zulässt, draußen statt.

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Das achtköpfige ACHNU-Team ist jeden Tag auf den Hügeln unterwegs, erklärt den Erwachsenen, worin die Arbeit mit den Mädchen und Jungen in den Kinderzentren besteht, tröstet und berät, wie man sich in dieser Situation im Dschungel der staatlichen Zuständigkeiten zurechtfinden kann, stellt Kontakte zu anderen Institutionen her und motiviert, sich gerade jetzt an den Nachbarschaftsorganisationen zu beteiligen, um Stimme und Gewicht beim Wiederaufbau einbringen zu können.

Gabriela, die Psychologin, setzte außerdem eine Idee um, die bei den Familien auf den verwüsteten Cerros extrem gut ankommt: Sie hat mit ihrer Kamera liebevoll alle Mädchen und Jungen aus dem Kinderzentrum, aber auch Eltern und Geschwister – und auf Wunsch sogar Hunde und Katzen – portraitiert und den Familien Farbabzüge geschenkt, weil mit dem Hab und Gut in den Häusern und Hütten ja auch alle fotographischen Erinnerungen an das frühere Leben vernichtet wurden.