Was trieb Sie dazu an, nach Ihrem Ruhestand in die Gefängnisseelsorge zu gehen?
Eckart Wragge: Ich wollte nach dreißig Jahren als Gemeindepfarrer noch einmal etwas anderes machen. Da bot man mir eine Stelle als Gefängnisseelsorger in Plötzensee an. Ich habe dort mit 61 Jahren angefangen zu arbeiten und es nicht bereut. Ich wollte den Menschen dort meine Lebenserfahrung zuhörend und helfend zur Verfügung stellen.
Also ein Helfersyndrom?
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Wragge: Auch. Aber ich hatte vor allem Matthäus 25 im Hinterkopf. Dort heißt es: "Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu mir gekommen." (…) "Wahrlich ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Das ist das Grundbekenntnis der evangelischen Gefängnisseelsorge. Ich habe mit der Zeit aber gemerkt, dass ich selbst immer mehr zum Empfangenden wurde.
Wie das?
Wragge: Ich habe gespürt: Die Gefangenen haben etwas zu bieten. Der Einblick in deren Lebensverhältnisse, in die Verführungen, denen sie erlegen sind, das ist für mich bleibendes Erlebnis. Ich war und bin beeindruckt und betroffen. Sie sind in einer Krise und sagen oder schreiben in dieser Krise erstaunliche Dinge. So entstand die Idee, diese Texte zu veröffentlichen.
Welche Geschichten haben Sie besonders berührt?
Wragge: Die Geschichte eines Heroinsüchtigen: Er überließ er mir ein Gedicht, in dem er beschreibt, wie ihn seine Drogensucht kaputt gemacht hat. Kurz vor seiner Entlassung zeigte er mir zudem ein Gebet, das er geschrieben hat. Da heißt es: "Herr, ich habe den alten Weg an einer Gabelung verlassen und gehe nun einen neuen." Das hat mich sehr berührt. Leider wurde er nach seiner Entlassung rückfällig. Da schrieb er mir: "Der Dämon hat mich eingeholt. Es ist mir aufs Äußerste peinlich, dass ich Sie enttäuscht habe. Ich glaube nach wie vor an Gott und dass er mir vergibt." Seine persönliche Niederlage hat mich wirklich erschüttert.
Mit einem anderen Gefangenen hatte ich über ein Jahr lang gesprochen und gedacht, dass ich ihn stabilisiert habe. Er vergiftete sich nach der Haft.
Welchen Stellenwert haben Glaube und Religion für die Gefangenen in Gesprächen?
Wragge: Wenn ich Impulse gesetzt habe, sind etliche darauf eingegangen: "Ein bisschen Glaube kann nicht schaden", oder "Ich glaube nicht an Gott, aber ich kann Ihnen meinen Schutzengel anbieten", sagten sie. Manche fragte ich, ob wir beten sollen. Da kamen Antworten wie: "Beten Sie schon mal vor, ich komme dann hinterher." Die Menschen wollen das Thema nicht abblocken. Sie wissen wenig darüber und haben Angst, sich zu blamieren.
Wie sind die Texte entstanden, die Sie in "In Deutschland freut sich niemand, dass du lebst" herausgegeben haben?
Wragge: Ich habe manche Gefangenen ermuntert, Texte zu schreiben, viele Inhaftierten kamen aber auch von selbst. Einer hatte zum Beispiel einen Rap für seine Mutter geschrieben, ich habe ihn dafür gelobt, und er bekam Lust, noch mehr zu liefern. Vieles ergab sich auch zufällig. Einer schrieb ein Gedicht über "Glück" für seine Frau. Ich bekam mit, wie er es ihr geben wollte, als sie ihn mit den Kindern im Gefängnis besuchte. Da habe ich einfach gefragt, ob ich es mir kopieren dürfte.
"Die Inhaftierten werden oft genug auf ihre Tat reduziert, nach dem Motto: 'Einmal Knacki, immer Knacki'"
Was bringt es den Männern, die persönlichen Gedichte oder Gedanken aufzuschreiben?
Wragge: Für viele war es ein Weg, ihre eigene Geschichte zu verarbeiten. Außerdem waren sie durch das Schreiben beschäftigt. Das Aufschreiben der Gedanken war eine Art Seelsorge, die ich vorangetrieben habe.
Wie haben Sie es geschafft, dass die Gefangenen Ihnen vertraut haben?
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Wragge: Das hat Zeit gebraucht. Gerade zu Beginn waren die Inhaftierten verunsichert. Ich hatte ja in den Gefängnisgottesdiensten meinen schwarzen Talar an, der hat viele an ihre Verurteilung erinnert. Schließlich tragen bei Gericht Richter und Anwälte auch ihre schwarzen Roben. Aber in der Woche lernten sie mich als "Nachbarn" kennen. Mein Seelsorge-Zimmer war eine gewöhnliche Gefängniszelle, und ich kleidete mich zivil. Bei einem Smalltalk auf dem Gang oder bei Kaffee und einem Keks in meiner Zelle kamen wir ins Gespräch.
Welches Gefühl haben Sie den Gefangenen vermittelt, das Andere, die im Gefängnis arbeiten - wie Sozialpädagogen, Ärzte oder Psychologen - vielleicht nicht konnten?
Wragge: Ich denke, ich konnte das Gefühl vermitteln, dass ich den Menschen nicht verurteile. Das hat mir Vertrauen eingebracht. Sie kamen nach einiger Zeit aus ihrer Aggression und inneren Kälte heraus und viele kamen gerne zum Gespräch zu mir. Ein Vorteil war auch, dass ich als Seelsorger Schweigepflicht habe, die anderen Mitarbeiter nicht.
Wieviel wussten Sie vor den Gesprächen über die Taten der Männer?
Wragge: Ich hatte die Informationen über den Gefangenen und seine Straftat im Gegensatz zu den anderen Mitarbeitern nicht aus den Akten, sondern von den Menschen selbst. Ich habe nie direkt gefragt: "Warum sind Sie hier?" Die Inhaftierten werden oft genug auf ihre Tat reduziert, nach dem Motto: "Einmal Knacki, immer Knacki". Das ist beim Pfarrer eben nicht so. Wenn sie es nicht erzählen wollten, habe ich ihnen ihr Geheimnis gelassen.
Sie haben im Jahr etwa 800 Gespräche mit Gefangenen geführt. Die Nachfrage war größer, aber Ihre Zeit begrenzt. Welche Themen haben die Insassen mit Ihnen besprochen?
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Wragge: Wir haben über Familie gesprochen, die sich von den Gefangenen abwendet, oder die Frau, die nicht mehr zu Besuch ins Gefängnis kommen will. Es ging um den verlorenen Job, die verlorene Wohnung oder um Schulden. In vielen Gesprächen haben die Menschen auch versucht, mich zu instrumentalisieren.
Inwiefern?
Wragge: Oft ging es um materielle Dinge. Ich wurde gebeten, Tabak zu besorgen, den gab es von mir aber nie. Andere wollten, dass ich die Familie bitte, Pakete zu Weihnachten oder Ostern zu schicken. Manche haben sich auch Kleidung gewünscht für die Zeit nach der Haft oder haben gefragt, ob ich ihnen Arbeit im Gefängnis besorgen kann. Da habe ich versucht, zu helfen. Ich habe es sogar geschafft, eine zweite Schicht in der Wäscherei einzuführen. Das gab Arbeit für 25 Mann und war ein schöner Erfolg. Passiert ist mir während der Gespräche mit den Männern zum Glück nie etwas.
"Ich habe gelernt, Dinge einfach zu formulieren. Ich habe Vieles von den Menschen zurückbekommen und meinen eigenen Glauben gestärkt"
Was können Sie als Seelsorger nicht leisten, wo sind Grenzen Ihrer Arbeit?
Wragge: Ich kann den Menschen ihre Schuldgefühle nicht nehmen und ihnen ihre Strafe nicht ersparen. Sie mussten auch von mir hören: "Was Sie gemacht haben, ging gar nicht." Der Betreffende muss seine Krise selbst meistern. Dazu gehört auch die Erkenntnis: "Ich habe Mist gebaut."
Sie schreiben in Ihrem Buch Aussagen von Sozialarbeitern, Wächtern und Psychologen im Umgang mit den Gefangenen auf. Da stehen Sätze wie "Ich trete aus dem Leben aus!" Beamtin: "Aber nicht während meiner Dienstzeit!" Hatten Sie Sorge, dass Sie irgendwann auch so auf die Männer zugehen?
Wragge: Ich spürte durch die vielen Gespräche eine seelische Erschöpfung. Da besteht durchaus die Gefahr, dass man abstumpft, die Leute nicht mehr ernst nimmt. Ich habe nach zehn Jahren gemerkt, dass ich nicht mehr weiter machen kann. Der Rucksack war eben voll.
Wie sind Sie mit den belastenden Geschichten umgegangen?
Wragge: Mir ist es gut gelungen, die Probleme im Gefängnis zu lassen. Ich habe meine Heimfahrt genutzt, um abzuschalten, mich räumlich und gedanklich zu distanzieren. Außerdem war meine Frau hilfreich. Sie war Krankenhausseelsorgerin, und mit ihr konnte ich belastende Fälle besprechen.
Was nehmen Sie aus Ihrer Arbeit mit?
Wragge: Ich war erstaunt, wie tiefsinnig die Gedanken der "einfachen Leute" waren. Wir trauen den Inhaftierten zu wenig zu. In einem Rap für alle Inhaftierten schreibt einer: "Du kannst aus der Vergangenheit lernen. Wenn du deine Fehler dann beglichen hast, greifst du zu den Sternen." Solche Zeilen sind persönliche Schätze, die die Männer für mich geöffnet haben. Außerdem habe ich eine andere, erfrischende Sprache gehört. Als Pfarrer war ich immer ein Mann des Wortes, aber eben von Büchern geprägt und nicht von der Straße. Ich habe gelernt, Dinge einfach zu formulieren. Ich habe Vieles von den Menschen zurückbekommen und meinen eigenen Glauben gestärkt. Als ich einen Inhaftierten fragte, warum er zum Gottesdienst kommt, sagte er: "Die Seele muss forschen." Sowas tut mir einfach gut.