Die Zahl der potentiellen Gewinner bei ESC 2041 ist höher denn je. Anders als beim Sieg von Emmelie de Forest und ihrem "Only Teardrops" in 2013, Loreens "Euphoria" in 2012, Lenas "Satellite" in 2010 und Alexander Rybaks "Fairytale" in 2009 gibt es in diesem Jahr keinen klaren Favoriten, dessen Sieg schon im Vorfeld die analytischen Experten und die enthusiastischen Fans vor Ort klar voraussagen.
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In zwei Halbfinal-Sendungen am Dienstag und Donnerstag wurde das Teilnehmerfeld von 37 auf 26 Lieder zusammengeschrumpft. Bis auf das Gastgeberland Dänemark, dem die Startnummmer 23 zugelost wurde, sind die übrigen Positionen von den Organisatoren diesmal nach einer strikten Show-Dramaturgie bestimmt worden. Konkret heißt das: Die übrigen Teilnehmer zogen aus einem Glastopf ein Los, das sie entweder in die erste oder in die zweite Veranstaltungs-Hälfte im Finale einordnete. Mit dieser einzigen formalen Maßgabe und dem Vorsatz, eine abwechslunsgreiche Veranstaltung zusammenzustellen, wurde dann hinter verschlossener Tür erstmals in der Eurovisions-Neuzeit ein Ablauf bewusst bestimmt. Dem Show-Spannungsbogen tut das gut, dem deutschen Teilnehmer-Lied allerings eher nicht.
Mit der Startnummer zwölf in der vermeintlich ohnehin schwereren ersten Veranstaltungshälfte sind die drei Mädels der Gruppe "Elaiza" zwischen zwei großen Favoriten eingekeilt. Dabei hatten die Überraschungssiegerinnen des deutschen Vorentscheids mit ihrem "Is It Right" bis dato schon ohnehin einen schweren Stand in Kopenhagen. Die beiden Runden der Einzelproben absolvierte Elaiza mit einem Auftritt, der mehr als heilloses Durcheinander, denn als echtes Show-Konzept wirkte. Das wurde in den vergangenen Tagen komplett auf den Kopf gestellt, so dass die junge, noch eher unerfahrene Band ihren neuen Auftritt jetzt auf den letzten Drücker nur noch unter der Bedingungen der Generalproben einüben konnte. Also ohne nochmaliges Testen, ohne die Möglichkeit, Kameraführungen und Lichteffekte auszuprobieren. Dem Auftritt hat es dennoch sehr gut getan, auch wenn eine solche Strategie natürlich ein Wagnis ist.
Conchita Wurst gegen Osteuropa
Gleich vor Elaiza singt mit der Startnummer elf der Österreicher Tom Neuwirth, der in der Rolle der Kunstfigur "Conchita Wurst" im zweiten Halbfinale bei dem fast sprichwörtlich begeisterungsfähigen Eurovisions-Publikum eine bisher unbekannte Euphorie entfachte.
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Der 25-Jährige in Fraukleidern, der irgendwie Wespentaille im Glitzerkleid und Vollbart unter einen Hut bringt, begeisterte auf der Bühne mit einer grandiosen Stimme und einer erhebenden Inszenierung, neben der Bühne mit seinen lebensklugen und herzenswarmen Sätzen. Sein "Rise like a Phoenix" hört sich zwar an wie eine James-Bond-Melodie aus den 60ern, macht aber auch in der Gegenwart Mut, den eigenen Lebensweg zu finden und zu gehen. Zu den deutschen Autoren des Lieds gehören neben Rolf Zuckowskis Sohn Ali auch Julian Maas, der als einer von Rolfs Freunden schon Anfang der 80er mit Rolf Zuckoswki in der Hitprade auftrat. Auch wenn die Begeisterung für Conchita Wurst vor Ort riesig ist, werden dem jungen Österreicher am Ende für den Sieg wohl die Televoting-Stimmen aus Osteuropa fehlen. In Russland, in der Ukraine, in Weissrussland wurde per Petition sein Ausschluss aus dem Wettberwerb gefordert.
Direkt nach Elaiza und einer Werbepause ist als 13. die Schwedin Sanna Nielsen dran, die mit ihrer Power-Ballade "Undo" ein Jahr nach der Eurovision in Malmö den Sieg schon wieder nach Schweden holen will. Bei ihrem siebten Anlauf im Melodifestivalen, der schwedischen Vorentscheidung, die als eigenständige Veranstaltung zu sehen ist, hat die potentielle Doppelgängerin von Helene Fischer endlich ihr Ticket gelöst und will in einem einfachen und effizienten Auftritt mit starker Stimme den Siegerpokal in Skandinavien behalten. Genau wie Startnumme fünf, der Norweger Carl Espen, dem mit "Silent Storm" von seiner Cousine Josefin Winther eine andere bewegende Power-Ballade auf den kräftigen Körper und auf die filigrane Seele geschneidert wurde.
Zu den Favoriten gehört nach einer langen englischen Durststrecke in diesem Jahr auch noch mal das Vereinigte Königreich, wie Großbritannien und Nord-Irland im Eurovisions-Verbund offiziell heißen. Molly Smitten-Downes singt in einer Weltverbesserungshymne über die "Childen of the Universe". Mit der Startnummer 26 hat sie das letzte Wort im Wettbewerb. Im ganzen Satz fordet sie da "Power to the People". Hoch gehandelt wird noch der Ungar András Kállay-Saunders, der auf Startplatz 21 das Kunststück schafft, in seinem Lied "Running" das Thema "Kindesmissbrauch" in einer tanzbaren Uptempo-Nummer zu verpacken.
Der Eurovisions-Zirkus ist auch immer Politik
Als absoluter Favorit angereist, ist der Armenier Aram Mp3, Startnummer sieben, mit seinem "I'm Not Alone" in den vergangenen Tagen deutlich in der Zuschauergunst gefallen. Sein manchmal halbherziger Auftritt hat wohl genauso dazu beigetragen wie unfreundliche Bemerkungen über Conchita Wurst, die der Sänger und Comedian als missglückte Scherze und Übersetzungsfehler entschuldigte. Dennoch wird Armenien den Sieg gern in den Kaukasus holen wollen, jährt sich doch im kommenden Jahr der Völkermord an den Armeniern zum 100. Mal.
Denn natürlich hat der Eurovisions-Zirkus immer mit Politik zu tun. So flogen der Ukrainerin Marija Jaremtschuk, die den Song Contest diesmal eröffnet, und ihrem wundervoll in Szene gesetzten "Tick-Tock" stets die Herzen zu, während die russischen Tolmachevy-Zwillinge und ihr ebenfalls ansprechend umgesetztes "Shine" nach iher Qualifikation für das Finale in Kopenhagen ausgebuht wurden. Dinge sind kompliziert und manchmal anders als sie scheinen. So wird die russisch annektierte Krim am Samstag als Teil der Ukraine abstimmen - und so dafür sorgen, dass die neuen, gefühlten russischen Landsmänninnen möglichst viele Punkte aus der Ukraine kriegen.
Und auch wenn Marija Jaremtschuk in Kopenhagen stets betont hat, dass sie für die geeinigte Ukraine singt, so war die gebürtige Tschernowitzerin doch stets eine Unterstützerin von Viktor Janukowitsch und seiner Partei der Regionen. Eben des Janukowitschs, der die Ukraine Schritt für Schritt dem Westen entfremdete, näher an Russland führte und im Februar von der Protestbewegung aus dem Amt gejagt wurde. Anfang der Woche berichtete die britische Tageszeitung "Mirror" aus dem Umfeld der Ukrainerin, dass Marija Jaremtschuk ein Fan von Vladimir Putin sei und eigentlich eher die russische Sache unterstütze.
Es sind eben nicht alle Dinge, wie sie scheinen. Manche aber schon. Zum Beispiel der polnische Beitrag mit der Startnummer neun. Donatan und Cleo heißen die Interpreten, wobei das nicht ganz stimmt. Der Mann Donatan hat nur die sehr schöne ethnische Melodie für die Slawinnen-Hymne "My S?owianie" geschrieben, auf der Bühne stehen nur sechs bildhübsche Polinnen. Diese stellen den mutmaßlichen Alltag von Slawinnen in eng geschnürten Miedern und allzu kurzen, falschen Trachtenröcken zwischen Butterfässern und Waschbrettern vor. Wer versucht ist, für das Land anzurufen, dem sei gesagt. Dieses Lied hat keinen Funken Ironie und bei Fragen in den Pressekonferenzen zum dem etwas mysteriösen, transportierten Frauenbild sahen die Polen einfach die Probleme der westeuropäischen Journalisten nicht.
Europa ist und bleibt eben auf einem gemeinsamen Fundament sehr unterschiedich. Und deshalb werden alle Zuschauer zwischen Reykjavik und Baku heute Abend ein und dieselbe Show und doch ganz unterschiedliche Sendungen sehen. Für uns in Deutschland wird es ein schöner Abend mit vielen emotionalen Höhepunkten, weil wir tendenziell Dinge wie unsere dänischen Nachbarn begreifen.