"Mordswut" lautete der Arbeitstitel dieses "Tatort" aus Köln, und das trifft es mindestens genauso gut wie "Ohnmacht": Dies sind die beiden Extreme, zwischen denen Max Ballauf in der Geschichte hin und her gerissen ist. Der Film beginnt spektakulär: Nach einem gemeinsamen Feierabendbier mit dem Kollegen Schenk (Dietmar Bär) wird der Hauptkommissar Zeuge, wie ein Jugendlicher einen anderen auf einem U-Bahnhof fast zu Tode prügelt. Ballauf geht dazwischen, wird niedergeschlagen, kommt kurz wieder auf die Beine und wird vor den einfahrenden Zug gestoßen.
Der kleine Teufel
Der fesselnd inszenierte Auftakt ist aber nur der Einstieg in einen Krimi, mit dem der "Tatort"-Redaktion des WDR und der produzierenden Colonia Media nach dem Thriller "Franziska" und dem Familiendrama "Der Fall Reinhardt" erneut eine herausragende Arbeit gelungen ist. Die Spannung resultiert diesmal allerdings weniger aus der Tätersuche. Obwohl die Überwachungskameras zerstört worden sind, finden die Kommissare recht bald raus, wer den jungen Geiger, der später seinen Verletzungen erliegt, auf dem Gewissen hat: Kai Göden (Robert Alexander Baer) ist ein Wiederholungstäter, aber er war offenbar in Begleitung seiner Freundin. Janine (Nadine Kösters) tischt Ballau und Schenk allerdings eine ungeheuerliche Geschichte auf: Angeblich hat sie der junge Mann sexuell belästigt, wodurch die Erinnerungen an den regelmäßigen Missbrauch durch ihren Vater lebendig geworden sei. Ihr Freund habe ihr nur geholfen; Notwehr also.
Die Wahrheit ist natürlich eine andere, und die schockierende Auflösung ist bei weitem nicht die einzige Überraschung des Drehbuchs von Andreas Knaup: Immer dann, wenn der Fall klar zu sein scheint, schlägt die Geschichte einen unerwarteten Haken. Bloß der rote Faden bleibt der gleiche: Da Ballauf beteiligt war, darf er die Ermittlungen nicht leiten. Weil er aber trotzdem mitmischen will, verheddert er sich immer wieder in juristischen Fallstricken. Gleich mehrfach müssen die Kommissare die Jugendlichen daher wieder laufen lassen. Knaup gelingt das Kunststück, der rechtlichen Ebene eine zentrale Bedeutung zu geben, ohne sie den Film dominieren zu lassen. Im Vordergrund stehen Ballaufs fast schon verzweifelte Bemühungen, die Täter zu überführen, doch je mehr er sich engagiert, desto stärker gerät er selbst in die Kritik: Ein im Internet kursierendes Foto zeigt ihn als Schläger, der zudem angeblich betrunken war.
Quasi nebenbei entwirft Knaup zudem noch ein familiäres Drama, das im Grunde ähnlich erschütternd ist wie der Mord an dem jungen Mann. Wie in "Der Fall Reinhardt" sind die entsprechenden darstellerischen Leistungen exzellent. Felix von Manteuffel und Corinna Kirchhoff spielen die Eltern der jungen Frau, und gerade Kirchhoff verkörpert die Mutter wie eine Rolle aus dem Horrorfilm: zwangsneurotisch und ohne eine Miene zu verziehen. Der Vater wiederum ist die tragische Figur dieses Dramas, das immer düstere Züge annimmt, je mehr Ballauf und Schenk über die Familie erfahren: Janine ist keineswegs das liebreizende Geschöpf, als das sie sich gern inszeniert; Nadine Kösters spielt die facettenreiche Rolle dieses kleinen Teufels in Menschengestalt ganz fabelhaft.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Sehenswert ist der Krimi auch dank der Inszenierung durch den "Tatort"-erfahrenen Thomas Jauch, der für WDR und MDR unter anderem den Köln-Leipziger Doppelkrimi "Kinderland" und "Ihr Kinderlein kommet" (2012) gedreht hat. Das faszinierende Lichtkonzept (Bildgestaltung: Clemens Messow) hat großen Anteil daran, dass sich die Atmosphäre des Films ständig ändert. Schade nur, dass der WDR die Stelle der Assistentin jedes Mal neu vergibt: Lucie Heinze ist als ebenso kesse wie kluge Internetfachfrau eine reizvolle Ergänzung zu den beiden Kommissaren. Davon abgesehen ist "Ohnmacht" der vorletzte Auftritt des November letzten Jahres verstorbenen Christian Tasche als Staatsanwalt von Prinz, dem wegen der juristischen Dimensionen des Falls diesmal eine besondere Rolle zukommt.