Die Sequenz dauert nur eine Minute, aber der Film legt in diesen sechzig Sekunden ein enormes Tempo vor. Die Einführung unmittelbar nach dem Ende des Vorspanns ist mit ihren mehreren Erzählebenen die Grundlage für die folgende Geschichte: Ein Junge rennt durch einen Wald, eine Leiche liegt im eigenen Blut, ein Mann überfällt eine Bank, ein anderer bearbeitet in einer Garage in Bildhauermanier einen Stein, dann fliegt der Nachbarschuppen in die Luft.
"Da draußen ist Krieg"
Dieser furiose Prolog ist Auftakt zu einem Film, der ein aktuelles Thema vordergründig als Krimi, zwischen den Bildern aber auch als Sozialdrama erzählt. Die Koordinaten der Handlung ergeben sich allerdings erst nach und nach, was die Spannung erhöht: Eine Familie ist nach der Arbeitslosigkeit des Mannes auf die schiefe Bahn geraten; nun rast ihr Dasein unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Die Lage scheint ausweglos: Robert Kienle (Peter Schneider) stellt mit Hilfe eines früheren Chemikers in einer Garage die Modedroge Crystal Meth her, ist damit aber mächtigen Gegnern ins Gehege geraten und wird nun erpresst. Als die Gangster offenbar auch seinen Sohn entführen, sieht er keinen anderen Ausweg, als Banken zu überfallen; "da draußen ist Krieg", rechtfertig er sein Vorgehen.
Es dauert eine Weile, bis Autor Johannes Betz mit den Fakten rausrückt; bis dahin versuchen die Beamten aus den Regensburger Kripo-Dezernaten Mord, Raub und Drogen einigermaßen hilflos, die verschiedenen Stränge dieses Falls miteinander zu verknüpfen. Weil Betz die Ermittlungen auf mehrere Ebenen verteilt, bekommen die Rollen neben Hauptfigur Ellen Lucas (Ulrike Kriener) größeren Spielraum, was dem Film gut tut. Gerade Anna Brüggemann wird auf diese Weise als junge Kommissarin Alex Eggert zum emotionalen Kraftwerk der Geschichte: Die Chefin ahnt zwar früh, dass es sich bei den verschiedenen Verbrechen um die titelgebende Kettenreaktion handelt, doch erst Alex erkennt das wahre Motiv. Auf diese Weise sieht man auch die zentrale Figur in anderem Licht: Peter Schneider, der sich seit der Ost/West-Romanze "Jedes Jahr im Juni" (2013) immer stärker in den Vordergrund spielt, versieht diesen Mann, der zu immer verzweifelteren Mitteln greift, um seine Familie zu retten, mit großer Hingabe; dass Kienle kräftig die eigenen Drogen konsumiert, gibt dem Schauspieler zudem gewisse Freiheiten. Gut integriert ist auch Tilo Prückner. Normalerweise spielt er den brummigen Vermieter der Hauptkommissarin, diesmal ist er mittendrin in der Geschichte: Max ist der Mann, der in der Nachbargarage seinem Hobby als Bildhauer nachgeht, als das Drogenlabor explodiert; außerdem ist Kienles Frau seine Großnichte.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Abgesehen von einigen Exkursen, in denen beispielsweise ein Therapeut etwas ungelenk über jene gesellschaftlichen Missstände doziert, die den Erfolg von Drogen wie Crystal Meth erst ermöglichen, inszeniert Tim Trageser "Kettenreaktion" aus einem Guss und auf hohem Spannungsniveau. Reizvoll wird die Inszenierung, die immer wieder für kurze Momente an das furiose Tempo des Prologs anknüpft, durch regelmäßige Stolpersteine, was zum Teil durchaus wörtlich zu nehmen ist, wenn Alex bei der Verfolgung Kienles im Wald hinfällt und erst mal zeitraubend ihre Pistole suchen muss. Ohnehin entpuppen sich einige Details, die Trageser beiläufig am Rande der Handlung in Szene setzt, als raffiniert eingestreute Schlüssel zur Auflösung der Geschichte.