Saroj lernt in der Night School
Foto: Sascha Montag/Zeitenspiegel
Lernen im Schein von Solarleuchten: Tagsüber hütet Saroj Vieh.
Morgens Büffel, abends büffeln
Saroj geht abends zur Schule, denn am Tag muss sie arbeiten. Wenn man Saroj fragt, was Mathe ist, dann wird sie erzählen, Mathe sei die Menge an Heu, die ihre Kuh frisst oder die Anzahl von Holzscheiten, die sie braucht, um das Wasser für den Tee zu wärmen.
01.05.2014
Andrea Jeska

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Wenn man sie fragt, was Biologie ist, dann wird das Mädchen erzählen, wie sie ihre Kuh gesund halten kann und welche Kräuter die Ziegen essen sollten. Denn wozu bräuchte Saroj Gleichungen zweiten Grades oder Genetik? Dieses Kind aus dem indischen Dorf Ghirr, das vom Leben nichts anderes will, als Hirtin sein. Noch nichts anderes.

Am Morgen dieses Tages war Saroj wie jeden Tag mit der Kuh und dem Kalb losgezogen und trieb die Tiere an den Fluss. Manche ihrer Altersgenossinnen hüten mehr als zehn Wasserbüffel, treiben riesige Ziegenherden.  Saroj kam spät los, weil sie noch Hausaufgaben machen musste. Der Vater war lange zu seinem Maurerjob gefahren, Bruder Vinod mit dem Bus zur Schule gefahren. Die beiden älteren Schwestern Pinky und Poonam hatten sich ein Tuch um die Haare gebunden und waren hinaus auf die Felder gegangen, um Mungobohnen zu pflücken.

Die Kinder verwalten ihre Schule selbst

Sarojs Heimat Ghirr ist ein winziges Dorf in der indischen Provinz Rajasthan. Dort leben Unberührbare. Im indischen Kastensystem stehen sie noch heute ganz unten.  Sie leben von der Feldarbeit und der Viehzucht. Fast alle Kinder des Dorfes arbeiten tagsüber als Viehhirten. Für den Schulbesuch bleibt keine Zeit – jedenfalls nicht in einer staatlichen Schule, wo tagsüber unterrichtet  wird.

Sarojs Tiere.

Dafür geht Saroj auf eine Abendschule, eine "Nightschool". Der Name steht in Indien für ein Bildungskonzept, das wenig mit der klassischen Schule zu tun hat, aber ganz nahe dran ist am Alltag der Schüler. Fast 700.000 Kinder aus armen Schichten lernen in diesen Nightschools, an sechs Tagen in der Woche das ganze Jahr hindurch. Kinder, die aus Familien kommen, die von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen, groß gezogen von Eltern, die selber kaum schulische Bildung erfahren haben.

Sarojs Schule liegt am Ende von Ghirr, wo ein paar große Bäume stehen, unter denen tagsüber Wasserbüffel Schatten suchen. Stühle gibt es nicht, alle Kinder lernen auf dem Boden. Nightschools sind ein Ort, an dem die Kinder vieles dürfen und fast nichts müssen. Zum Bildungskonzept der Nightschools gehört Basisdemokratie. Unter den Kindern von jeweils drei Schulen werden ein Parlament gewählt und Ämter: Premierministerin, Erziehungsministerin, Sprecher, weitere Minister. Das Parlament verwaltet die Schulen. Es kann Empfehlungen für die Lehrpläne abgeben und sogar Lehrer entlassen und einstellen.

"Das Kinder auf dem Land arbeiten müssen, ist eine Tatsache"

Saroj ist klein für ihre neun Jahre. Sie ist oft schüchtern, dann zieht sie den Kopf zwischen die Schultern und die großen Augen werden noch größer. Wenn man ihr Fragen stellt, schaut sie erst zu Ram, ihrem Vater, dann zu Prem, ihrer Mutter. Erst wenn die beiden sagen, los Saroj, man hat dich was gefragt, streckt sie sich und antwortet. Dass dieses Kind den ganzen Tag arbeitet und dann noch abends zur Schule geht, das könnte einen zu Mitleid anregen.

Doch Saroj scheint kein Mitleid zu brauchen. "Macht es dir Spaß, die Tiere zu hüten?" Sie nickt mit großem Enthusiasmus. "Stört es dich, dass du arbeiten musst?"  Sie kaut auf dem Daumennagel.  Dann sagt sie, sie mag das Wasser holen nicht, das sei so schwer. Aber die Tiere hüten, das sei schön. Würdest du lieber tagsüber zur Schule gehen?  Sie schüttelt vehement den Kopf.  "In der Nightschool habe ich meine Freundinnen."

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Sieben Stunden täglich hütet Saroj die Tiere. Nach der Arbeit mit dem Vieh kommt die Hausarbeit, dann das Abendessen. Um 18.30 Uhr läuft Saroj los zur Schule, an ihrer Seite ihre Freundinnen. Saroj mag sie sehr: Sonu lache immer und Monica denke sich tolle Spiele aus. Mit Prianca ist sie quasi aufgewachsen, denn ihre Eltern sind Wanderarbeiter und kaum je zuhause.

Ursprung des Nightschool-Konzepts ist die Barfuß-Bewegung. Sie will den Ärmsten der Armen, Analphabeten die meisten, helfen. Eine halbe Stunde von Chirr entfernt wurde vor 40 Jahren die erste Nightschool eröffnet: das Barefoot-College. Begründer des Konzepts ist der Inder Bunker Roy. Als er begann, mit den Unberührbaren zu arbeiten, beschimpfte man ihn als Kommunisten. Man warf  ihm vor, Kinderarbeit zu fördern. Doch Roy ließ sich nicht beirren. "Dass die Kinder auf dem Lande, wo alle arm sind, arbeiten müssen, ist eine Tatsache, die wir nicht ändern können", glaubt er. "Was wir aber tun können, ist ihnen  Wissen zu geben, mit dem sie sich später ernähren können und nicht in die Elendsviertel der Städte ziehen müssen."

Zubereitung der Abendmahlzeit.

Kishan Kanwa, die von der Dorfgemeinschaft und den Kindern zur Lehrerin gewählt wurde und dann eine dreimonatige Ausbildung erhielt, hat es selten eilig, mit dem Unterricht anzufangen. Keine Schulglocke mahnt die Kinder. Dem magischen Abendlicht, das zu Beginn noch auf die Kinder scheint, folgt schnell tiefe Dunkelheit. Kishan Kanwa stellt zwei Solarleuchten auf. Fünf Klassenstufen gibt es in der Nightschool, danach ist die angestrebte Basisbildung erreicht. Ein paar streunende Hunde laufen herum, ein Mädchen wiegt ihren Babybruder in den Armen.

Der Schulabend beginnt mit einem gesungenen Gebet. Im Hindi-Unterricht lernen die Kinder Sanskrit, in Biologie stehen in jenen Wochen Krankheiten von Rindern und Ziegen auf dem Lehrplan. Und wie man sie heilen kann.

"Sie will nur deshalb Hirtin werden, weil sie nichts anderes kennt"

Die Nightschools sind keine Kaderschmiede, sondern lediglich ein Sprungbrett aus der tiefsten Not. Besonders für die Mädchen. Mehr als die Hälfte der Nightschool-Kinder, sagt Bunker Roy, schaffe anschließend die Aufnahme an einer staatlichen Schule.
Auch Sarojs Geschwister gingen nach der Nightschool noch für zwei Jahre auf eine stattliche Schule und machten einen Abschluss. Dass Sarojs Vater Ram alle seine Kinder, auch die Mädchen, zur Schule schickt, ist auf dem Land nicht selbstverständlich. Ram war vor 35 Jahren einer der ersten Nightschool-Schüler in seinem Dorf. Er lernte lesen und Basismathematik und kann sich deshalb auch als Maurer verdingen.

Dennoch muss Saroj zu Hause bleiben, wenn es viel zu tun gibt. Nur selten schafft sie es, neben der Arbeit auch noch die Hausaufgaben zu erledigen. Die Tochter protestiert dagegen, der Vater bleibt meist hart: "Die Pflichten zuerst", sagt er. Wenn Saroj die vier Bildungsjahre auf der Nightschool hinter sich hat, will er sie auf eine staatliche Schule schicken. "Saroj braucht Vorbilder. Sie will nur deshalb Hirtin werden, weil sie nichts anderes kennt."

Gegen 21 Uhr sind die Kleinsten müde und gehen heim. Eine Stunde später sind die Akkus der Solarleuchten leer und Kishan Kanwa spricht ein Schlussgebiet. Saroj gähnt in ihr Hindi-Lehrbuch. Als sie nach Hause kommt, raucht Ram seine Abendzigarette und Prem stopft die Löcher in den Jutesäcken für die Mungobohnen-Ernte. Die Schwestern nähen noch an ihren Taschen. Saroj kriecht zu Vinod in das selbstgebaute Holzbett  im Hof, wo kühler Nachtwind weht. Acht Stunden kann sie nun schlafen. Sie wird noch im Dunkeln wieder aufstehen, Wasser holen und los ziehen mit den Tieren. Wie jeden Tag.