Jetzt erst recht! Gute Gemeinde-Ideen
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Der Geist weht in den Gemeinden
Die evangelische Kirche schrumpft. Mitglieder und Geld werden weniger. Was bedeutet das für die Gemeinden? Viele sagen: "Jetzt erst recht!" Sie haben spannende Ideen und gestalten ihr Gemeindeleben mit Freude. Einige dieser Gemeinden hat evangelisch.de besucht, die Reportagen sind in unserer Serie "Jetzt erst recht! Gute Gemeinde-Ideen" zu lesen.

Duisburg-Marxloh: Die Bonhoeffer Gemeinde musste Gebäude aufgeben, das Loslassen schmerzt. Schönfeld in der Uckermark: 13 Orte, elf Kirchen und neun Gemeinden auf dem Land – wie soll das gehen? Hamburg St. Georg: Gar nicht so einfach, den heruntergekommenen Nachbarstadtteil Borgfelde zu integrieren. Wittenberg, Stadt der Reformation: Die Stadtkirche muss saniert werden, aber woher soll das Geld kommen? Ruhla in Thüringen: Kaum ein Kind im Kindergottesdienst – wenn nichts passiert, stirbt die Gemeinde aus.

Solche und ähnliche Sorgen haben viele evangelische Kirchengemeinden in ganz Deutschland. Als Szenario, wohin die Reise geht, wurde im EKD-Reformpapier "Kirche der Freiheit" (2006) die so genannte "einfache Formel" aufgestellt: Bis zum Jahr 2030 werde die evangelische Kirche nur noch halb so viele Mitglieder und ein Drittel weniger Einnahmen haben. Die Zahlen der EKD zeigen zwar momentan einen Anstieg der Kirchensteuern, doch tatsächlich werden die Mitglieder weniger: Im Jahr 1992 waren es 29,2 Millionen, im Jahr 2012 nur noch 23,6 Millionen. Das liegt nicht nur an Austritten, sondern vor allem an der Bevölkerungsentwicklung.

Da klang die Parole vom "Wachsen gegen den Trend", die im Zuge des Reformprozesses ausgerufen wurde, wie Hohn: Auch wenn ganze Landstriche aussterben und viele Protestanten nur zum Heiraten in den Gottesdienst gehen, soll die Kirche wachsen, der Gottesdienstbesuch von vier auf zehn Prozent steigen? Dieses Ziel wurde bisher nicht erreicht. Die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der EKD (März 2014) zeigt: Nur "13 Prozent der Evangelischen in Deutschland pflegen … eine intensive Mitgliedschaftspraxis", das sind rund drei Millionen Menschen. Einem Drittel der evangelisch Getauften ist die Kirche schlicht egal. So weit, so deprimierend.

"Das ist nicht Trendforschung, sondern Astrologie"

Oberkirchenrat Konrad Merzyn leitet bei der EKD das Projektbüro für den Reformprozess. Er sagt, die Kirche sei in den vergangenen Jahren durchaus gewachsen, wenn auch nicht unbedingt quantitativ. "Man kann auf jeden Fall sagen, dass qualitatives Wachstum zu erreichen ist, wenn es um Predigtkultur geht oder um Liturgie und Gottesdienst oder missionarische Bemühungen, da hat viel Wachstum stattgefunden", sagt er mit Verweis auf die neuen Zentren, die die EKD gegründet hat. "Doch es wäre eine Illusion zu glauben, das würde sich niederschlagen in einer steigenden Zahl von Kirchenmitgliedern oder einer steigenden Taufquote." Merzyn warnt davor, die Ergebnisse der KMU von 2014 direkt mit dem 2006 gestarteten Reformprozess in Zusammenhang zu bringen. "Wir brauchen einen langen Atem…. Auch Rückbau ist etwas, was gebaut werden muss."

Vielen Pfarrerinnen und Pfarrern stößt die Rede von "Rückbau" und "Reform" seit langem sauer auf, vor allem der betriebswirtschaftliche Ansatz wird kritisiert. Hauptamtliche leiden unter Strukturveränderungen: Fusionen mit Nachbargemeinden und der Verkauf von Gebäuden kosten Kraft und Nerven. Auch für Friedhelm Schneider ist "Reformprozess" mittlerweile ein Reizwort. Der Pfarrer arbeitet als Managementberater und ist Vorstandsmitglied des Vereins wort-meldungen.de. Schneider hat im Pfarrerblatt (Ausgabe 1/2014) ein Fazit zu "Kirche der Freiheit" veröffentlicht. Seine These: Die Reform sei in Wahrheit ein zentral gesteuerter Umbauprozess, der mit spekulativen Zahlen begründet werde.

Die "einfache Formel", so Schneider, basiere auf einer Prognose, die "schon falsifiziert" sei. Die zugrunde liegenden Zahlen stammten aus Mitte der Achtziger Jahre, so Schneider, und "seither kann man feststellen, dass die Kirchensteuern nicht zurückgegangen sind, sondern gestiegen". Das stimmt: Mit 4,6 Milliarden Euro haben Kirchensteuereinnahmen 2012 einen Höchststand erreicht. Allerdings liege das an der Konjunktur, erklärt Konrad Merzyn: "Wir haben im Augenblick eine relativ florierende Kirchensteuerquelle, aber die langfristige Perspektive hat sich nicht geändert." Friedhelm Schneider dagegen hält es für "höchst bedenklich", überhaupt Prognosen für einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren aufzustellen. "Das ist nicht mal mehr Trendforschung, sondern das ist Astrologie."

Das Vorgehen der EKD sei überdies "völlig unstrategisch", sagt Schneider. "Eine Strategie muss darauf ausgerichtet sein, was ich momentan erreichen will. Die Kirche aber sagt: Mit Blick auf das Jahr 2030 schließen wir heute schon mal Kirchen, stoßen vorsichtshalber gleich die Gebäude ab und so weiter. Wir fahren einen Reduktionskurs, um uns heute einem vermeintlich zukünftig reduzierten Bedarf anzupassen." Vorläufiges Ergebnis seien "Stressfaktoren bei den Pfarrern, ein entsprechend hoher Krankenstand, Burn-out und so weiter." Schneider meint, die Kirche brauche keine Strukturreformen, nur "minimal-invasive" Eingriffe.

Das Kirchenamt kann keine Erweckung veranlassen

Währenddessen mehren sich Stimmen, die sagen, die Kirche benötige einen geistlichen Aufbruch vor allen Strukturreformen. Der österreichische katholische Theologe und Priester Paul Zulehner zum Beispiel sagte im evangelisch.de-Interview in der Serie "Wie wollen wir glauben?", die Kirche müsse "stärker bezogen sein auf jenen Gott, der in Christus und in seinem Geist am Werk ist. Wer sich auf Gott bezieht, nimmt seine eigene Wichtigkeit zurück". Und auch Thies Gundlach, Vizepräsident des Kirchenamtes der EKD, stellt im Fazit zur Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung 2014 fest: "Ein Wachsen gegen den Trend … dürfte ein kraftvolles geistliches Geschehen zur Voraussetzung haben – ein solches außerordentliches Geschehen ist weder durch Geld noch durch Reformen zu initiieren oder sonst wie zu erzwingen." Anders gesagt: Der Geist weht, wo er will (Johannes 3,8), und das Kirchenamt kann keine Erweckung veranlassen.

Können es die Gemeinden? Vielleicht ein bisschen. In Duisburg konzentrieren sie sich auf ihre zwei verbliebenen Kirchen und machen das Beste draus. In Schönfeld in der Uckermark hat sich ein riesiger gemeinsamer Gemeindekirchenrat gebildet, der Ideen und Finanzen koordiniert. In Hamburg St. Georg haben sie es geschafft, alle zu integrieren: Junge und Alte mit verschiedenen Hautfarben und Identitäten, das Gemeindeleben ist bunt und lebendig wie nie zuvor. In Wittenberg laufen höchst kreative Fundraising-Aktionen, so dass es Spaß macht, Geld für die Stadtkirche zu geben. In Ruhla, Thüringen, hat der Pfarrer mit Ausdauer den Kindergarten besucht, dort Lieder gesungen und Geschichten erzählt, bis die Kinder wieder zur Kirche kamen. Wunderbare Beispiele, von denen es in den kommenden Wochen in der evangelisch.de-Gemeindeserie "Jetzt erst recht! Gute Gemeinde-Ideen" mehr zu lesen gibt.