Foto: Rolf Zöllner
Berlin: 200 Schlüssel für Türen und Herzen
Zu wenig Geld, zu wenig Kirchgänger, düstere Aussichten für die evangelische Kirche? Von wegen! Unsere Gemeinden sagen "Jetzt erst recht" und haben gute Ideen, zum Beispiel die Evangelische Kirchengemeinde "Martin-Luther" in Berlin-Neukölln: Dort liegt die Schlüsselgewalt in den Händen von Ehrenamtlichen, mehr als 200 Generalschlüssel wurden verteilt. Das Vertrauen zahlt sich aus.

Die Kirche liegt eingebaut in eine Häuserzeile in der Fuldastraße, nahe der U-Bahnstation "Rathaus Neukölln". Die durch Medienberichte bekannte Rütli-Schule ist direkt um die Ecke. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund liegt in Neukölln bei rund 40 Prozent. Die Kirchenglocken läuten also mitten in einem Stadtteil, dessen Ruf zumindest nicht der Beste ist.

Gottesdienst mit Pfarrerin Anja Siebert-Bright und Pfarrer Alexander Pabst

Und dennoch: Die evangelische Kirchengemeinde hat mehr als  6.000 Gemeindeglieder und um die 200 davon engagieren sich ehrenamtlich. Ein jährliches Highlight ist beispielsweise der Basar am ersten Advent: "Das ganze Jahr über bringen Menschen Gebasteltes und andere selbstgemachte Dinge vorbei, die sie Spenden wollen und die dann im Keller der Kirche oder des Pfarrhauses lagern", erzählt Pfarrerin Anja Siebert-Bright.

Im alltäglichen Gemeindeleben gibt es eine Krabbel- und Jugendgruppe, eine Handarbeits-, eine Lauf- und eine Volkstanzgruppe, sogar Qui-Gong wird in "Martin-Luther" wöchentlich geübt. Auch Bildungsangebote wie Sprachkurse und Fortbildungen des Arbeitsamtes finden in der Gemeinde statt. Viele Menschen gehen täglich ein und aus.

Die Kirche selbst ist durchgängig von acht bis 22.00 Uhr geöffnet, das Gemeindebüro wird nicht abgeschlossen. "Wir wollen eine offene Kirche sein. Der Ruf von Neukölln ist einfach nur so schlecht. Hier passiert einem gar nichts, wirklich", sagt Siebert-Bright: "Wir wollen, dass Menschen in der Kirche ein Zuhause haben."

"Dieter hat einfach zu mir gesagt, mach mal"

Zu einem Zuhause passen keine verschlossenen Türen. Dies ist einer der Gründe, warum es nicht allzu schwierig ist, in "Martin-Luther" einen Generalschlüssel zu erhalten.

Franjo Kanne engagiert sich seit Jahren in der Gemeinde.

"Völlig unkompliziert war das", sagt Franjo Kanne, ein freundlicher Mann mit Vollbart, der häufig den Kindergottesdienst gestaltet: "Ich wollte mir damals eigentlich nur einen Schlüssel leihen und bin zum damals noch tätigen Pfarrer Dieter Spanknebel gegangen, aber der hat mir gleich einen eigenen in die Hand gedrückt." Franjo Kanne musste lediglich unterschreiben, dass er den Schlüssel erhalten hatte.

"Begonnen hat das so vor ungefähr zehn Jahren", sagt Pfarrerin Siebert-Bright: "Unsere Vorgänger haben damals beschlossen, jedem einen Generalschlüssel zu geben, der sich engagieren wollte und vertrauenswürdig wirkt."

Einer von ihnen ist Tim Beyer. Er wurde vor einigen Jahren von Alt-Pfarrer Spanknebel angesprochen, ob er sich denn nicht um die Tontechnik für eine Liedernacht kümmern könne. Beyer sagte ja und bekam noch am gleichen Tag ein Budget und einen Schlüssel ausgehändigt. "Dieter hat einfach zu mir gesagt, mach mal", sagt der Mann in schwarzer Lederjacke.  Beyer meint, diese Geste sei bezeichnend dafür, wie man generell mit Mitarbeitern in der Gemeinde umgeht. "Es hat für bestimmte Projekte natürlich schon mal einer den Hut auf, aber generell arbeiten viele eigenverantwortlich."

Ein Ehrenamtlicher sperrt abends zu

"Es gibt keine Runde der Verantwortlichen. Die Mitarbeiter organisieren sich selbstständig", erklärt Anja Siebert-Bright: "Und wer Hilfe braucht, sucht sich andere zur Unterstützung." Wenn es dann doch einmal einen Notfall gibt, laufen die Fäden bei den beiden Hauptamtlichen, also bei ihr und dem zweiten Pfarrer Alexander Pabst zusammen.

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Pabst ergänzt: "Es ist natürlich auch eine organisatorische Entlastung, dass nicht immer jemand die Türen auf- und zuschließen muss." Außerdem fühlten sich die Menschen mit Schlüssel der Gemeinde stärker zugehörig. Vielleicht sorgen sie sich sogar gemeinsam stärker um "ihre" Räume. Ein zuverlässiger Ehrenamtlicher geht jeden Abend noch einmal durch alle Räume und sperrt die Türen zu.

Der Technik-Mitarbeiter Tim Beyer kennt andere Gemeinden, wo die Schlüsselvergabe recht rigide reguliert wird. "Das würde ich schon als sehr belastend empfinden." Beyer schätzt das Vertrauen, das den Mitarbeitern in "Martin-Luther" entgegen gebracht wird.

Der Schlüssel als Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung

Natürlich könne damit auch Missbrauch getrieben werden, räumt er ein. "Aber im Verhältnis zu dem, was man sich vergibt, wenn man die Schlüssel nicht so frei herausgeben würde, sei das zu verschmerzen." Einmal ist eine teure, alte Bibel aus dem Gemeindebüro geklaut worden. "Doch alle Diebstähle, die es bislang bei uns gegeben hat, waren tatsächlich Einbrüche", stellt Siebert-Bright klar. Sie ist seit über einem Jahr Pfarrerin in "Martin-Luther" - in der ganzen Zeit habe es keinerlei Probleme mit den Schlüsseln gegeben.

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Gisela Wessel besitzt seit Jahrzehnten einen Generalschlüssel. "Den brauch' ich aber auch." Sie ist schon in der Gemeinde konfirmiert worden, ihre Kinder auch, ihre Enkelkinder werden es wohl später einmal werden. Sie arbeitet ehrenamtlich im Kirchencafé, backt Kuchen, schreibt in die Kirchenbücher, unterstützt die "Tafel-Aktion" der Gemeinde. Der Schlüssel sei unerlässlich bei ihrem Engagement, auch als ein Zeichen der Anerkennung und Wertschätzung ihrer Arbeit. Doch dafür noch viel wichtiger seien die freundlichen Worte des Pfarrers und der Kirchencafé-Besucher am Sonntagmorgen.

Gemeinsames Mahl in der Kirche am Gründonnerstag 2014

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