TV-Zuschauer kennen die Ticks vom Serienermittler Monk, Kino-Fans erinnern sich an die herrlich komische Studie, die Jack Nicholson in "Besser geht’s nicht" abgeliefert hat: Menschen mit Zwangsneurosen sind ein Quell der Heiterkeit. Für die Betroffenen ist das allerdings gar nicht komisch: Wer nicht anders kann, als Gegenstände ständig symmetrisch auszurichten oder wer sich zwanghaft reinigen muss, wenn er andere berührt hat, hat es ziemlich schwer im Leben. Ein Patient dieser Art war in Blochs Krankengeschichten überfällig. Heide Welk aber ist ein besonderer Fall: Sie hat, wie es der Psychotherapeut mal ausdrückt, einen Sturm im Kopf. Natürlich wirkt es absonderlich, wenn sie Abfall in eigene kleine Plastiktüten verpackt, im Supermarkt die CD-Rohlinge zählt oder an Stiften die Spitzen abbricht, weil sie eine obsessive Angst davor hat, Menschen, die sie liebt, damit zu erstechen. Doch die vom Gatten (Peter Prager) hingebungsvoll umsorgte Schriftstellerin fürchtet, in den Wahn abzudriften. Immer wieder ereignen sich Dinge, die sie sich nicht erklären kann. Als auf ihrem Computermonitor dutzendfach die Aufforderung "Töte ihn!" auftaucht, vermutet sie endgültig, schizophren zu werden: Als sei eine andere Seite in ihr darauf fixiert, ihren Mann zu ermorden.
Bei allem Respekt vor Dagmar Manzels seriöser Verkörperung, die von vornherein verhindert, dass man sich über die Autorin lustig macht: Man muss nicht mal Robert Aldrichs Gruselklassiker "Wiegenlied für eine Leiche" gesehen haben, um zu ahnen, was (oder besser gesagt: wer) sich hinter den Wahnvorstellungen verbirgt. Trotzdem ist "Die Blaue Stunde" von Thorsten Näter (Buch und Regie), der dem verstorbenen Dieter Pfaff einst auch die Anwaltsserie "Der Dicke" auf den Leib geschrieben hat, erneut ein Glanzstück dieser an Höhepunkten nicht gerade armen Reihe. Das Lob beschränkt sich allerdings auf die Szenen mit Pfaff und Manzel, die sich wunderbar ergänzen.
Die beiden weiteren Erzählebenen stehen der Geschichte mitunter sogar im Weg: Blochs Freundin (Ulrike Krumbiegel) betreut obdachlose Jugendliche. Das führt zwar zu einer scheuen Romanze zwischen ihrem Sohn und einem ziemlich hartgesottenen Straßenmädchen, dessen Piercings in Nase und Oberlippe als klassischer Anschlussfehler auch mal die Seiten tauschen, ist aber für den Rest der Handlung völlig unerheblich. Gleiches gilt für den Strang mit Blochs Tochter Leonie (Katharina Wackernagel), die ein Praktikum in der Psychiatrie absolviert und die berufliche Distanz zu einer suizidgefährdeten "Borderline"-Patientin verliert. Beide Seitenstränge wirken wie Fremdkörper und Ablenkungsmanöver.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das verwundert um so mehr, als Näter, ohnehin ein Routinier, seinen Film ansonsten sorgfältig durchkomponiert hat. Gerade die erste Begegnung zwischen Therapeut und Schriftstellerin ist sehr schön arrangiert. Diese Gewissenhaftigkeit spiegelt sich auch in der präzisen Ausstattung (Ursula Otten) wieder. In der Schlüsselszene des Films sitzt Heide Welk vor einem Bild mit Spiralmuster, spätestens seit Hitchcock ("Vertigo"!) im Thriller ein Signal dafür, wenn der Wahn einen Menschen in seinen Strudel zieht.