Das Projekt basiert auf dem Buch "Wir wollen eine andere Welt: Jugend in Deutschland 1900 – 2010" von Fred Grimm, von dem auch das Konzept des Films stammt. Seine gründliche Vorleistung hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass Jan Hinrik Drevs (Buch und Regie) nicht mehr ganz so viel Arbeit hatte: Sämtliche Geschichten, die vorgelesen oder erzählt werden, stammen aus Briefen und Tagebüchern. Das mag als Konzept weder aufregend noch neu klingen, aber dafür ist ein weiteres ganz wesentliches Element umso so innovativer: Reiseführer durchs 20. Jahrhundert sind Anna Maria Mühe (28) und Kostja Ullmann (29). Der zentrale Erzählstrang des neunzig Minuten langen Films zeigt die beiden Schauspieler in einer Art Loft inmitten von Büchern, Schallplatten und allerlei elektronischen Gerätschaften, mit deren Hilfe sie sich gegenseitig immer wieder über Absonderlichkeiten der verschiedenen Epochen informieren.
Erlebnisse junger Menschen
Was "Junges Deutschland" aber ganz entschieden aus der Vielzahl vergleichbarer Produktionen heraushebt, sind die szenischen Rekonstruktionen, die Drevs stilistisch dem jeweiligen Stand der Technik zum Verwechseln ähnlich angepasst hat. Dank Kostüm, Ausstattung und Maske sind die Spielszenen von den zeitgenössischen Aufnahmen nicht zu unterscheiden; meist erkennt man sie nur daran, dass man irgendwo Mühe und Ullmann entdeckt. Sehr hübsch sind auch kleine Raffinessen wie jene, als in einer ansonsten schwarzweißen Szene anlässlich der Hinrichtung des gerade mal 17 Jahre alten Widerstandskämpfers Helmuth Hübener durch die Nazis ein entsprechendes roten Plakat auch in der Rekonstruktion rot ist.
Dank der beiden prominenten Identifikationsfiguren ist "Junges Deutschland" auch für ein eher jugendliches Publikum spannend. Natürlich bleiben sie Schauspieler, die in verschiedene Rollen schlüpfen, und dazu zählt auch der Part des Reiseführers, aber Mühes und Ullmanns Gegenwartsgespräche klingen nie gestellt. Ihr Interesse an den Erlebnissen junger Menschen wirkt so echt wie beispielsweise bei einem studentischen Pärchen, das gemeinsam Material für eine Hausarbeit sammelt. Alles andere wäre auch seltsam gewesen, denn dem Reiz dieser Aufgabe kann man sich gar nicht entziehen, zumal Geschichte aus dem Blickwinkel junger Menschen naturgemäß ganz anders aussieht als aus der Perspektive des Historikers. Meist aber geht es ohnehin darum, wie Jugendliche die jeweiligen Zu- oder Missstände erlebt haben; das reicht von der Kriegssehnsucht 1914 über den ausgelassenen Hedonismus der Goldenen Zwanziger bis zur enormen Popularität Adolf Hitlers gerade bei Jugendlichen und von der Rebellion in den Fünfzigern über Mauerbau und sexuelle Revolution bis zur nicht zuletzt durch die vielen jungen Demonstranten erzwungene Öffnung der Mauer.
Fast schon zwangsläufig hat der Vorsatz, ein komplettes Jahrhundert als Spielfilm zu erzählen, eine gewisse Atemlosigkeit zu Folge. Für die erste Hälfte mag das aus Zuschauersicht völlig in Ordnung gehen, aber spätestens mit Beginn der Zeitgeschichte, jenen Jahrzehnten also, die das potenzielle Publikum selbst miterlebt hat, würde man gern öfter verweilen, zumal ja jetzt die Geschichte zweier Deutschlands erzählt werden muss.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Trotzdem mehren sich die Gänsehautmomente, weil immer mehr der gezeigten Ereignisse und der geschilderten Gefühle Teil der eigenen Biografie sind; außerdem nimmt die Popkultur als Ausdruck des jugendlichen Lebensgefühls in der zweiten Hälfte des Films eine dominierende Rolle ein. Unübersehbares Manko des Konzepts ist allerdings der völlige Verzicht auf die Perspektive der Migrantenkinder, aber das wäre womöglich ein Film für sich.