Handwerklich betrachtet ist es keine Zauberei, einen Krimi zu inszenieren. Ein Raum, zwei Kommissare, drei wechselnde Verdächtige: fertig. Natürlich muss die Handlung spannend umgesetzt werden, weshalb die Kamera immer wieder mal ihre Position verändert; aber der Rest ist eine Frage der Darstellerführung. Im Grunde stand Regisseur Florian Baxmeyer in diesem "Tatort" aus Bremen vor einer ähnlichen Herausforderung, denn die Geschichte spielt sich innerhalb von nur einer Nacht ab, und der Schauplatz bleibt weitgehend der gleiche; aber Baxmeyer hatte es nicht mit fünf, sondern mit fünfzig Personen zu tun. Dem Film sind die ohne Frage schwierigen Dreharbeiten allerdings nicht anzusehen, zumal dank des Drehbuchs von Jochen Greve immer wieder andere Figuren aus der Gruppe heraustreten.
Das Schwarze Schaf des Dorfes
Letztlich will das Publikum ja ohnehin vor allem durch eine spannende Handlung fasziniert werden, aber Baxmeyer hat Greves ausgefallene Idee auch bemerkenswert fesselnd umgesetzt. Die Einheit von Zeit und Raum ist gewissermaßen eine Dreingabe: Das Ermittlerduo Lürsen und Stedefreund (Sabine Postel, Oliver Mommsen) ist zu einer Dorfhochzeit eingeladen. Kaum bittet der Alleinunterhalter zur ersten Polonaise, wird die Hochzeitsgesellschaft von zwei Vermummten überfallen. Die Männer verriegeln alle Ausgänge und kassieren Schmuck und Bargeld. Doch es geht um mehr, wie sich rausstellt, als einer der beiden seine Maske lüftet: Wolf (Denis Moschitto) galt als das Schwarze Schaf des Dorfes, weshalb es niemanden so recht überraschte, als er vor neun Jahren wegen der Ermordung seiner Freundin ins Gefängnis kam. Aber der junge Mann ist unschuldig und sucht nun den wahren Täter. Da bis auf seine Oma sämtliche erwachsenen Dorfbewohner im Festsaal sind, muss der Mörder unter den Anwesenden sein. Als der Vater des Bräutigam erschlagen wird, ahnt Inga Lürsen, dass Wolf recht hat. Als ein Unbekannter sie hinterrücks würgt und in den Tiefkühlraum sperrt, wird aus der Ahnung Gewissheit.
Geschickt gibt Greve die Details erst nach und nach preis. Die Vorgeschichte setzt sich für Kommissarin und Zuschauer also gleichermaßen Stück für Stück zusammen. Dass Buch und Regie auf die in solchen Fällen gern genutzte Rückblende verzichten, steigert naturgemäß noch den klaustrophoben Charakter des Films. Trotzdem gibt es zwischendurch immer wieder Atempausen, die zudem für komische Abwechslung sorgen: Weil Stedefreund keine Lust auf die provinzielle Veranstaltung hat, geht er zwischendurch mit Lürsens Hund Paul an die frische Luft. Während die Geiselnehmer Todesangst verbreiten, widerfährt dem Gassigänger ein Missgeschick nach dem anderen, bis er schließlich ohne Hose da steht. Oliver Mommsen, ohnehin ein großartiger Komödiant, spielt das ganz wunderbar und sorgt auch später für heitere Momente, als sich rausstellt, dass der Leiter des alarmierten Sondereinsatzkommandos ausgerechnet der neue Mann (Arved Birnbaum) seiner Ex-Frau ist. Hübsch absurd, gerade gemessen am Ernst der Haupthandlung, sind auch die Auftritte von Wolfs Großmutter (Barbara Nüsse), der Stedefreund den Hund anvertraut hat und die nun ständig im unpassenden Moment auftaucht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wer wie warum für den Tod von Wolfs Freundin verantwortlich war, ist letztlich fast egal, denn Dreck am Stecken haben sie alle, die Mitglieder der ehrenwerten Dorfgemeinschaft. Und da Baxmeyer den Film überaus dicht inszeniert hat, fällt auch nicht weiter ins Gewicht, dass Sascha Reimann, besser bekannt als "Deichkind"-Rapper Ferris MC, als zweiter Geiselnehmer vor allem durch Lautstärke hervorsticht. Andererseits trägt er so zur aggressionsgeladenen Atmosphäre des Films bei: In diesem "Tatort" liegt ganz schön viel Gewalt in der Luft.