"Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name"
Zehn-Uhr-Gottesdienst in Langen, die Gemeinde betet. Warum kommen diese vier Prozent sonntags noch in die Kirche, besuchen dieses vermeintliche Auslaufmodell? "Wir glauben Gott im höchsten Thron", singen die Gottesdienstfeiernden. "Bei Lied 184 werde ich immer ganz sentimental", gesteht Mareike Breyer später. "Peinlich, oder?" Zusammen mit Pfarrerin Susanne Alberti sitzt die 23-Jährige in der Martin-Luther-Gemeinde vorne auf den Stufen vor dem Altar. Während des Gesprächs malt ihre dreijährige Tochter auf dem Teppich Engel mit Buntstiften aus. Susanne Alberti hat Mareike Breyer konfirmiert. Seitdem ist sie immer wieder gekommen, hilft gerne mit im Gottesdienst.
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Er bedeutet für sie Zeit für sich zu haben, eine Pause vom Alltag. Wenn sie die Kirche betritt, wünsche sie sich allerdings manchmal mehr das Gefühl zu haben, sie sei an einem heiligen Ort, sagt Mareike Breyer. Doch die Kirche mit ihren Backsteinwänden und dem braunen Teppich auf den Stufen zum Altar fühlt sich für sie mehr wie ein zweites Wohnzimmer an. Der Kirchenraum ist ein Stück Heimat.
Das hat Mareike Breyer sicherlich auch Susanne Alberti zu verdanken. Als sie Pfarrerin in der Bunkerförmigen Martin-Luther-Kirche wurde, flogen zuerst die Regale an den Seitenwänden und die Gummibäume links und rechts vor dem Altar raus. Im Gottesdienst will sie Raum für die Seele schaffen, da soll nichts ablenken. Schlicht und ohne jeden Kitsch ist dieser Raum nun. So mag Susanne Alberti ihre Kirche. Überhaupt mag sie es, sich in Kirchen zuhause zu fühlen. Deswegen setzt sie sich in fremden Kirchen gerne in eine vordere Reihe, "um das Gefühl zu haben, das ist auch meine Kirche".
Im Gottesdienst probiert sie gerne mal etwas aus: zum Beispiel den Bibliolog, den ihre Gemeinde allerdings nicht sonderlich mochte. Biblische Geschichten weiterspinnen, laut vor und mit allen, das wollte kaum einer. Doch eigene Gedanken an eine Pinnwand links vom Altar heften, das kam gut an. Zettel mit Antworten hängen dort – Antworten auf Susanne Albertis Fragen wie: "Was macht uns im Leben glücklich? Und was hindert uns dann daran, dieses Glück erleben zu können?"
"Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden"
Mitte der neunziger Jahre war es, als Grete und Rudolf Görich diesen Satz nicht mehr herausbekamen. Ihre Tochter hatte Krebs. "Nicht Dein Wille soll geschehen. So dachte ich", sagt Grete Görich. Der Schicksalsschlag entfernte die beiden treuen Kirchgänger zunächst von ihrer Kirche. Erst die Zeit und die Kirchentage mit Veranstaltungen wie "Verwaiste Eltern" haben sie zurück zu ihrer sonntäglichen Konstante im Leben gebracht. Außerdem die Einsicht, dass Gott nicht die Verantwortung für das Leben der Menschen trage, sondern nur den Menschen selbst.
"Gott nahe zu sein, ist mein Glück", sagt Rudolf Görich. Er hat weißes Haar und eine lange Geschichte mit der Langener Stadtkirche. Zusammen mit seiner Frau wohnt er nicht weit davon entfernt in ihrem Elternhaus. Die neugotische Kirche von 1883 prägt das Stadtbild mit ihrem roten Turm aus Backstein. Schon als Kinder besuchten Grete und Rudolf Görich, beide Jahrgang 1933, den Gottesdienst; Rudolf Görich seit seiner Konfirmandenzeit häufig auch als Organist. "Was die Musik angeht, mache ich keine Kompromisse im Gottesdienst", sagt er. "Die muss stimmen." Dass der Pfarrer biblische Texte in die Gegenwart übersetzt, gefällt ihm, er lässt sich gerne durch Bibelinterpretationen anregen. Wenn eine Predigt mal banal ausfällt, dann sei das nicht so tragisch. Jeder habe doch mal einen schlechten Tag. Hauptsache neben der Musik stimme die Struktur. Rudolf Görich mag den Gottesdienst gerne klassisch. Ohne Beiwerk. "Da muss keiner tanzen, wie in manchem Fernsehgottesdienst", findet er.
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"Ich spüre Gottes Nähe im Gottesdienst", sagt Rudolf Görich, "er ist meine Kraftquelle für den Alltag". Er ist etwas, worauf er sich verlassen kann. Sonntags, zehn Uhr. Da tut es weh, wenn so etwas passiert: In der Langener Stadtkirche stand lange ein silbernes Kreuz auf dem Altar. Es war eine Schenkung des Großherzogs Ludwig IV. von Hessen zur Einweihung der Kirche. Kurz vor dem Krippenspiel 2013 wurde das Kreuz geklaut "Es war immer an diesem Ort", sagt Rudolf Görich. Er und seine Frau wurden beide in der Stadtkirche getauft, ihre Eltern wurden dort getraut. "Und nun ist da diese Leere auf dem Altar."
"Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld"
Der regelmäßige Gottesdienst-Besuch ist für Prädikantin Martina Hofmann-Becker ein Korrektiv. Einmal in der Woche denkt sie dort über ihr Leben nach: Was läuft gut, was weniger? Wo stehe ich und was will ich ändern? Der Segen ist ihr im Gottesdienst ein besonderes Anliegen. Er ist für sie eine Kernaussage des Glaubens. "Alles ist gesegnet", sagt sie, "auch das, was nicht erfolgreich ist".
Die Fenster der Johanneskirche reichen vom Boden bis zur Decke. Martina Hofmann-Becker sitzt gerne hinten, um aus den Fenstern schauen zu können. Nicht, weil sie die Predigt nicht interessiere, sondern, weil sie dort "zum Himmel" schauen könne und das Wolkenspiel und die weiterziehende Sonne beobachte.
Aufgewachsen ist Martina Hofmann-Becker als Pfarrerstochter in einem schwäbischen Dorf. So war der Sonntagsgottesdienst für sie Pflicht – und Vergnügen zugleich, wie sie versichert. Als sie für ihre Ausbildung wegzog, konnte und wollte sie zunächst in keiner anderen Gemeinde anknüpfen. Erst mit Anfang 30 und ihren Kindern erwachte das Interesse am Gottesdienst neu.
Sie hat als Alleinerziehende drei Kinder groß gezogen. Der Sonntag wurde schnell zu ihrer Pause, der Gottesdienst ihr Ort zum Kraftsammeln. Sonntags verbot sie sich die Hausarbeit, zwang sich, innezuhalten. Auch heute noch, wo ihre Kinder längst ausgezogen sind, sei der Sonntagsgottesdienst ihr Geschenk an sich selbst: ihre Stunde, ihre Freiheit, um sich im Fühlen und Träumen nahezukommen.
"Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen"
Steffen Held hat seinen ersten Gottesdienstbesuch als kleiner Junge in schlechter Erinnerung. "Einfach furchtbar", dunkel, fremd und langweilig sei er gewesen. Heute ist er Pfarrer der Petrusgemeinde in Langen.
Was passierte also dazwischen? Eine gute Konfirmandenarbeit habe sein Interesse an der Kirche geweckt. Außerdem ist er der Typ Sportler und möglicherweise weckte das schlechte Erlebnis auch seinen Ehrgeiz – zumindest aber zieht er heute solche Vergleiche: "In den Gottesdienst gehen muss man einüben. Das ist wie beim Sport. Ohne regelmäßiges Üben hat man keine Erfolge und keinen Spaß."
Pfarrer Steffen Held ist streng mit sich und seiner Zunft: "Wir sind mit unseren Predigten oft in der Durchschnittlichkeit und Banalität verhaftet." Er wisse ja, dass er selbst auch nicht immer Glanzstücke abliefere, aber er wünsche sich mehr "humorvolle und spritzige Predigten". Außerdem wünscht er, Pfarrer hätten mehr Zeit, diesen Kernbestand des Glaubens, den Sonntagsgottesdienst, mit Liebe und Sorgfalt vorzubereiten.
Ebenso wie Pfarrerin Susanne Alberti bevorzugt Steffen Held die vorderen Reihen einer Kirche. Besonders gerne mag er das Abendmahl. "Die Gemeinschaft hilft mir, mich rückzuversichern. Meine Zweifel im Glauben zu überwinden."
"Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen"
Beim Vater Unser legen alle Gottesdienstbesucher ihr Glück in dieselben Hände. Die Glocken der Johannesgemeinde läuten, während die Gemeinde betet. Etwas, worauf man sich in der Regel in jedem Sonntagsgottesdienst verlassen kann – so wie Rudolf Görich es mag. Es ist wie eine Schlussmeditation – vielleicht trifft es das Bedürfnis von Mareike Breyer, die sich mehr Heiligkeit wünscht. Martina Hofmann-Becker hebt die Hände und spricht den Segen. Diesen Segen, von dem sie sagt, dass er sich nicht für den Erfolg interessiert, sondern für alle, egal, wie es gerade um jeden einzelnen steht.
Dieser Text erschien zum ersten Mal am 18. Juni 2014 auf evangelisch.de.