Für den Schweizer Soziologen Franz-Xaver Kaufmann war es ein weiter Weg bis zum internationalen Konsens, dass zur zentralen Aufgabe eines jeden Staates die Bekämpfung von Armut und Gewährleistung sozialer Rechte gehört. Dass diese Menschenrechte in den sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts vor allem für die Arbeiter erst bitter erkämpft werden mussten, ist für Kaufmann nur ein Aspekt der Entwicklung.
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Grundlage aller Sozialstaatlichkeit ist für den Katholiken vor allem das Christentum. "Im Neuen Testament ist der Arme nicht nur Adressat von Hilfe, sondern er genießt eine besondere Wertschätzung. Weiterhin gilt dies nicht nur den Armen, etwa innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft, sondern grundsätzlich allen Menschen", erklärt Kaufmann.
So war ein Bischof seit dem 3. Jahrhundert "pater pauperum", Vater der Armen, und er hatte sich dieses Titels durch die Schaffung entsprechender Einrichtungen als würdig zu erweisen. Nach alter kirchlicher Lehre wird das Kirchenvermögen als Armengut bezeichnet. Die Armenfürsorge gehörte immer schon zur Kernaufgabe der frühen Kirche. Eine Idealvorstellung, die auch schon im Mittelalter nicht unbedingt eingehalten wurde, wie Kaufmann zugibt. Denn das seit dem 11. Jahrhundert nach Macht strebende Papsttum betonte immer mehr die hierarchischen Verhältnisse der Kirche, in denen Arme nicht oder zuletzt vorkamen. In Reaktion auf den wachsenden Reichtum der Kirche entstanden im Spätmittelalter auch zahlreiche Bettelorden, die das Armutsideal in neuer Form aufgriffen.
Hellenistische Stadtstaaten als Vorläufer
Daneben nennt Kaufmann die hellenistischen Stadtstaaten als weitere Vorläufer des modernen Sozialstaates. "Es gilt der Status des unabhängig von der Verwandtschaft gleichen Bürgers, die Idee der Isonomia, welche als erste die Herrschaft der Sippen zu überwinden vermochte", weiß Kaufmann. So bildeten sich etwa im antiken Athen erste Verbrüderungsformen und Gilden heraus, Vorläufer des heute noch gültigen Genossenschaftswesens.
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Grundlegender aber sei bis heute die jüdisch-christliche Schöpfungstheologie: "Die Idee der Gleichheit aller Menschen vor Gott, das ist der Grundmythos Europas. Der jüdische Gott schafft Recht allen Unterdrückten. Im Neuen Testament findet sich dieselbe Kritik an den Reichen und Mächtigen", sagt Kaufmann.
Seit der Reformation aber hat es eine entscheidende Weiterentwicklung gegeben. Die katholische Kirche sah sich selbst als "societas perfecta" und damit als Konkurrentin des Staates. Luther hingegen verzichtete auf die äußerliche Kirche und übertrug deren soziale und fürsorgliche Funktionen auf die politisch verfassten Gemeinwesen. So entwickelten sich die lutherischen Gebiete innerhalb des Reichs zu Staaten, in denen die Verantwortung für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Obrigkeit zugeschrieben wurden.
Calvinisten: Wirtschaftlich besonders erfolgreich
Calvin hingegen und in seiner Folge die calvinistisch geprägten Gemeinwesen insistierten vor allem auf die Verfleißigung der Bevölkerung als gottgefälliges Tun. Der calvinistische Bürger erwies sich als wirtschaftlich besonders erfolgreich, für den Soziologen Max Weber ein Vorbild für den modernen homo oeconomicus und geistige Grundlage der späteren Industrialisierung.
Doch gibt es auch kritische Anfragen. So sei mit der Reformation die soziale Verantwortung zwar an die Obrigkeit und damit an den Staat übergegangen, aber dies sei nicht unbedingt zum Wohle aller geschehen. "Vor der Reformation wurde die Armenversorgung in Wittenberg durch Brüderschaften organisiert. Diese brachten durch große Feste viel Geld für die Armenversorgung auf. Heute würde man dazu wohl charity dinner sagen. Luther gefielen diese Saufereien nicht, die Brüderschaften wurden aufgelöst und Luther führte zur staatlichen kommunalen Versorgung für die Armen den Gemeinen Kasten ein. Nur ging es den Armen hinterher schlechter als vorher", bemerkt Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in Hannover.