Vor wenigen Tagen hat Walat Ramazan Taylan die Zusage bekommen: Er darf nach den Sommerferien an ein Berufskolleg in Münster gehen, um dort sein Fachabitur zu machen. Vor einigen Jahren hätten das seine Lehrer und Eltern, aber vor allem er selbst kaum geglaubt. "Ich habe früher viel Scheiße gemacht", gibt der heute 19-Jährige zu.
###mehr-artikel###
Aber er hat sich durchgeboxt: von der Förderschule auf die Hauptschule, von wo er mit dem besten Zeugnis auf die Realschule wechselte. Mit einem Notenschnitt von 2,1 bewarb er sich nun erfolgreich um die Chance aufs Fachabitur. Geholfen hat ihm dabei sein Spaß am Boxen. Vor gut vier Jahren schloss Walat sich dem Projekt "Farid‘s Qualifighting" an. Wer hier mitmacht, wird im Boxring trainiert – aber nur, wenn die schulischen Leistungen stimmen. Damit die besser werden, bietet die Initiative nicht nur Training für die Muskeln an, sondern auch für den Kopf.
"Keiner hat damals geglaubt, dass er so eine Karriere machen wird", berichtet der Initiator des Projekts, Farid Vatanparast. Der 34-Jährige hat selbst eine bewegende Laufbahn hinter sich. Geboren im Iran, Kindheit in Dubai, als er 13 Jahre alt war, kam seine Familie nach Deutschland. Hier begann Vatanparast zu boxen, machte den Realschulabschluss, das Abitur, studierte Wirtschaftswissenschaft und trägt mittlerweile einen Doktortitel. Auch als Boxer machte er Karriere, gewann Titel, stand 2003 kurz vor der Qualifikation für die Olympischen Spiele, hatte einen hoch dotierten Profivertrag, doch dann zwang ihn ein schwerer Autounfall, bei dem er die Sehkraft seines linken Auges verlor, umzudenken.
"Wir haben im Boxclub so viele Ressourcen"
Es war die Diskussion um die Greencard für qualifizierte Ausländer, die Vatanparast auf die Idee zu seinem Projekt brachte. "Wir haben hier im Boxclub so viele Ressourcen. Warum kümmern wir uns nicht um die Menschen, die hier sind." Doch der 34-Jährige verhehlt auch nicht, dass es ihm nicht nur um die Schüler und ihre Lebenswege ging. Er will auch das Image des Boxsports verbessern. "Viele denken, Boxen ist etwas für dumme Menschen." Mit seiner Initiative will er positive Vorbilder schaffen.
Welche Leistungen die Kinder und Jugendlichen erbringen müssen, werde individuell ausgehandelt, so Vatanparast. Die Teilnehmer bringen ihre Zeugnisse mit, dann wird besprochen, um welche Note sie sich bis zum nächsten Halbjahr verbessert haben wollen. Alle Schüler schließen einen Vertrag mit dem 34-Jährigen und unterschreiben die Abmachung. "Es sind realistische Verträge, die jeder erfüllen kann", erklärt der Initiator. Fordern und Fördern, aber nicht Überfordern.
Bei der Umsetzung des Konzepts hilft die wohl einmalige Boxhalle, die im vergangenen Sommer eröffnet wurde und die mit jedem Klischee bricht. In dem Gebäude etwas außerhalb der Münsteraner Innenstadt riecht es noch immer nach frisch verbauten Materialien. Durch die Glastür geht es in die helle Halle. Im Zentrum steht der Ring, drumherum hängen Boxsäcke, an denen die Jugendlichen üben. Weiter vorne gibt es einen Fitnessraum, in dem die Muskeln trainiert werden.
Das Training fürs Gehirn gibt’s in der oberen Etage. Hier stehen in lichtdurchfluteten Räumen Schreibtische und apfelgrüne Stühle, Computer und Schränke mit Lehrbüchern. Die Jugendlichen können sich mit Getränken versorgen. Dank der Poster von Muhammad Ali ist der Sport auch hier präsent.
Drei Mal pro Woche hat eine Gruppe von Teilnehmern erst Nachhilfe und trainiert dann, bei der zweiten läuft es genau andersherum. Im Schnitt sechs Nachhilfelehrer kümmern sich dann um die Kinder und Jugendlichen. Sie erledigen zuerst ihre Hausaufgaben, dann bilden sich Grüppchen, die sich auf Englisch, Mathematik oder ein anderes Fach konzentrieren.
Trainer ist "Mädchen für alle Fälle"
Die 15 Nachhilfelehrer erhalten eine kleine Aufwandsentschädigung oder kümmern sich ehrenamtlich um die Schüler. Unter ihnen sind Studierende, Rentner, aber auch Berufstätige. Sieben Trainer übernehmen die sportliche Seite des Projekts. Walats Coach bietet seinen Schützlingen sogar einen Fahrdienst. Weitere fünf Mitstreiter kümmern sich um die Organisation, berichtet Vatanparast. Er selbst, der hauptberuflich als Dozent arbeitet und ein Restaurant betreibt, sei das "Mädchen für alle Fälle". Das Training der Kaderboxer übernimmt er selbst.
###mehr-links###
Bis zu 30 Euro kostet die Teilnahme am Projekt monatlich. Wer Aufgaben wie das Aufräumen der Halle nimmt, zahlt weniger. 110 Schüler haben bereits mitgemacht, 49 sind derzeit aktiv dabei. "Einige haben nur einen Elternteil, der mit der Erziehung überfordert ist. Es kommen aber auch Kinder aus dem Heim zu uns", erzählt Vatanparast. Etwa 80 Prozent sind Jungen. Aber auch einige der teilnehmenden Mädchen haben bereits mit Titelgewinnen auf sich aufmerksam gemacht. Die Schüler sind zwischen 12 und 22 Jahren alt und kommen aus 17 unterschiedlichen Nationen.
Walat ist in der Türkei geboren. Er kam als Dreijähriger mit seiner Familie nach Deutschland. "Ich habe hier Menschen mit sehr großem Herz kennengelernt", sagt der 19-Jährige. "Manchmal freuen sie sich mehr über gute Noten als wir selbst." Er trifft sich mit einer Sozialpädagogin auch außerhalb der Sporthalle, um zu üben. "Lernen zu Hause kannte ich früher gar nicht." Dass Walat sich von Schulform zu Schulform gearbeitet hat, verdankt er auch seiner Disziplin. Die bringt er auch fürs Boxen auf: Um zu Kämpfen in seiner Gewichtsklasse zugelassen zu werden, verzichtete er auch mal tagelang aufs Essen. "Wir unterstützen die Jugendlichen, aber sie erreichen ihre Erfolge aus eigener Kraft", sagt Vatanparast.
Die Anfangsphase ist schwierig
Walat hat schon einige Freunde mit zum Training gebracht, und viele wieder gehen sehen. Nicht jeder kommt mit den Regeln klar. Quatschen während der Nachhilfe – 20 Liegestütze, für alle. Wer keine besseren Zeugnisnoten erreicht, muss erst einmal auf der Bank sitzen. Auch der 19-Jährige durfte schon für einige Wochen nur zusehen. Die Aussicht auf Einzeltraining mit Vatanparast ließ ihn durchhalten.
Gerade die Anfangsphase sei schwierig, räumt der Ideengeber ein. "Irgendwann begreifen die jungen Menschen, dass Lernen etwas Cooles ist und Gutes bringt." Wenn die Zeugnisse deutlich besser geworden sind, würden die jungen Boxer von der Nachhilfepflicht freigestellt, erklärt er weiter. Auch Walat hat diesen Status mittlerweile erreicht, nimmt aber trotzdem regelmäßig freiwillig teil. Schickte seine Förderschullehrerin ihn früher aus dem Unterricht, "habe ich das als Belohnung angesehen", erzählt er. "Das bereue ich heute."
Kennengelernt haben sich die beiden Münsteraner an Walats ehemaliger Förderschule. Dort bot Vatanparast sein Konzept bereits im Kleinen an: Training für Unterricht, wer nicht lernt, boxt nicht mit. Der Schüler blieb dabei und kämpfte sich durch – obwohl er erst ab der achten Klasse Englischunterricht bekam, obwohl er nebenbei jobben gehen muss. "Ich wollte es den anderen zeigen", erinnert sich Walat. Am Anfang habe ihn die Vorstellung motiviert, seine guten Zeugnisse seiner alten Lehrerin von der Förderschule zu zeigen. "Mittlerweile ist mir das egal. Denn ich habe es für mich gemacht."