Der Junge ist offensichtlich verstört. Er zieht sich in sein Zimmer zurück, schwänzt die Schule, kapselt sich ab. Irgendwas ist vorgefallen, jeder weiß Bescheid, aber niemand redet darüber: Der Anfang des Familiendramas "Neufeld, mitkommen!" ist ausgesprochen mutig, denn der Film lässt sein Publikum völlig im Unklaren darüber, was geschehen ist. Erst nach und nach erahnt man aufgrund der Gespräche, dass der unauffällige 14jährige Nick Neufeld von seinen Mitschülern gemobbt worden ist. Aber das ist Vergangenheit, zumindest für sein Umfeld; Nachbarn, Lehrer und sogar Vater Martin (Ole Puppe) wollen endlich wieder zur Tagesordnung übergehen. Für Nick jedoch ist die Vergangenheit nach wie vor Gegenwart, und das nicht nur, weil er den Tätern tagtäglich in der Schule begegnen würde: Sie sind zwar verurteilt worden, doch gemessen an ihren Taten sind die Sozialstunden geradezu lächerlich. Hauptfigur des Films ist jedoch nicht Nick, sondern seine Mutter. Beate (Christina Große) ist ehrlich empört: über die viel zu milde Strafe, aber auch über die Tatsache, dass die Schule keinerlei Konsequenzen zieht.
Mehr als Mobbing
"Neufeld, mitkommen!" ist im besten Sinne eine Zumutung. Fast eine Stunde lang hält der Film mit den tatsächlichen Ereignissen hinterm Berg. Als sie endlich preisgegeben werden, wünscht man sich, man hätte sie nie erfahren; was dem Jungen angetan worden ist, hat nichts mehr mit Mobbing zu tun, sondern erfüllt vielmehr den Tatbestand der Folter. Fast noch schlimmer ist die Gewissheit, dass sich die Autorinnen Kathi Liers und Jana Simon die Geschichte nicht ausgedacht haben: Ihr gemeinsames Drehbuch basiert auf einer Reportage aus Simons Sachbuch "Alltägliche Abgründe". Der Fall, der "Neufeld, mitkommen!" zugrunde liegt, hat sich genau so in einer Kleinstadt zugetragen. Auch im Film spielt diese räumliche Enge eine wichtige Rolle: weil Beate Neufeld den Beteiligten auf Schritt und Tritt begegnet; die Mutter eines Täters ist ihre Nachbarin und Freundin.
Christina Große verkörpert diese Mutter, die so gern wie eine Löwin für ihr Kind kämpfen würde, aber keine Feinde findet, herausragend und nachvollziehbar; jede einzelne emotionale Facette, Verzweiflung ebenso wie Zorn und zarte Hoffnung, sind jederzeit glaubwürdig. Fast noch eindrucksvoller ist die Leistung des jungen Ludwig Skuras, der auf berührende Weise vermittelt, warum für Nick nichts mehr ist wie vorher. Maßgeblich für die ausgezeichnete Leistung der Darsteller ist nicht zuletzt das schlüssige Konzept, das Tim Trageser für die Umsetzung des Drehbuchs gefunden hat: Durch die fast schon reportagehafte Kameraführung (Eckhard Jansen) ist man buchstäblich permanent ganz nah bei den Figuren; bei Dialogen gibt es keine Schnitte, die Kamera schwenkt zwischen den Gesprächpartnern hin und her.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Selbstverständlich kann ein derart realitätsnahes Drama am Ende nicht so tun, als sei alles wieder gut. Entsprechend gemischt sind die Gefühle, die der doppelte Schluss hervorruft. Film beginnt mit Nicks Geburtstagsfeier, bei der noch alles in Ordnung ist. Einen Schnitt später ist die Welt von Familie Neufeld grau und trist. Am Ende feiert Nick wieder Geburtstag, und die zwischenzeitlich an den Herausforderungen fast zerbrochene Familie ist zumindest wieder auf einem guten Weg; aber das Böse reckt wie im Horrorfilm erneut sein hässliches Haupt.