Foto: epd-bild/Fils de la Charité
Der katholische Pfarrer Jean-Emile Anizan (Mitte) mit einer Gruppe Militärseelsorger.
Vom Kanonendonner aufgeweckt: Ein Pfarrer in Verdun
Er wollte an die Front, so nah wie möglich. In seinen Tagebuchaufzeichnungen beschreibt der französische Militärpfarrer Anizan den Kriegsalltag auf dem Schlachtfeld von Verdun.
10.03.2014
epd
Ulrike Koltermann

Der katholische Pfarrer Jean-Emile Anizan war 61 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg begann. "Gleich nach der Kriegserklärung entschloss ich mich, Militärpfarrer zu werden, aber nicht in einem Krankenhaus, sondern so nah wie möglich an den Verletzten und damit auch an den Kämpfen", so beginnt sein Tagebuch, das die französische Militärseelsorge anlässlich des 100. Jahrestags des Kriegsausbruchs veröffentlichte.

Chance für die Kirche

Für die katholische Kirche in Frankreich war der Erste Weltkrieg (1914-1918) trotz und wegen all seiner Grausamkeit eine Chance. Erst wenige Jahre vorher hatten Kirche und Staat ihre Scheidung vollzogen: Im 19. Jahrhundert hatte sich in Frankreich ein heftiger Antiklerikalismus entwickelt, der 1905 in der strikten Trennung von Kirche und Staat gipfelte. Die Kirchen wurden all ihrer Kirchengebäude enteignet: Die Kathedralen fielen an den Staat, die Pfarrkirchen an die Kommunen.

###mehr-artikel###Die jungen Franzosen, die 1914 an die Front geschickt wurden, hatten mit Religion in den meisten Fällen nichts am Hut. Doch in der Hölle des Krieges, angesichts der vielen Toten und in Angst um das eigene Leben, wurden so mancher empfänglich für die Worte eines Pfarrers wie Jean-Emile Anizan. Geboren wurde er am 6. Januar 1853 in Aretnay bei Orleans.

"Sonntag, 6. September. Heftige Kämpfe bei Verdun. Zwei Messen, halb sieben und elf. Die Kirche ist voll. Am Ende der Messe höre ich die Beichte. (...) Ein Offizier bittet mich, zu seiner Stellung zu kommen, seine Soldaten hätten das Bedürfnis, mit mir zu sprechen", notierte der Militärgeistliche.

Die Existenz der etwa 900 französischen Militärseelsorger während des Ersten Weltkriegs ist angesichts der strengen Trennung von Kirche und Staat eigentlich ein Paradox. Aber in Zeiten äußerer Bedrohung verloren die inneren Konflikte an Bedeutung: In Frankreich galt im "Großen Krieg" die "Union Sacrée", ein Burgfrieden zwischen allen Parteien, aber auch zwischen Staat und Kirche.

Ungewöhnliche Einblicke in den Alltag

Anizan war sich dessen bewusst. "Ich habe keinen größeren Wunsch, als dass Frankreich wieder seiner Mission als älteste Tochter der Kirche gerecht wird", schreibt er in seinem Tagebuch. Seine Aufzeichnungen geben nebenbei auch ungewöhnliche Einblicke in den Kriegsalltag auf dem Schlachtfeld von Verdun, das zum Sinnbild der absurden, ergebnislosen Materialschlacht wurde.

"Ich werde um Mitternacht vom Kanonendonner wach. Es ist eine wunderbare Nacht. Man sieht das Feuer der deutschen Kanonen und man hört das Pfeifen der Munition, die ganz in der Nähe einschlägt. Zum Glück vergeht die Nacht, ohne dass bei uns einer getroffen wird", notiert der Militärpfarrer Ende September.

An vorderster Front

Was bewog den 61-Jährigen, sich freiwillig an die vorderste Front zu begeben? Es dürfte eine Mischung aus religiösen und persönlichen Motiven gewesen sein. Anizan hatte schon als junger Priester das Bedürfnis gehabt, sich den Ärmsten der Armen zu widmen. Deswegen war er in eine Bruderschaft eingetreten, die im Pariser Arbeiterviertel Charonne aktiv war.

Kurz vor Kriegsbeginn durchlebte Anizan, der mittlerweile die Leitung der Bruderschaft übernommen hatte, eine schlimme persönliche Krise: Nach einem internen Streit zwischen Modernisierern, zu denen er selber zählte, und Traditionalisten, hatte der Papst ihn seines Amtes enthoben. Anizan zog sich zunächst in ein Kloster zurück, entschied dann aber, dass sein Platz an der Seite der Frontsoldaten sei und brach als Freiwilliger auf eigene Faust nach Verdun auf.

Gründer einer neuen Gemeinschaft

Bis 1916 blieb Anizan der Geistliche in Verdun, seine Tagebücher decken nur wenige Monate der Zeit an der Front ab. Mit einer schweren Lungenentzündung kehrte Anizan nach Paris zurück, wo er nach seiner Genesung eine neue Ordensgemeinschaft gründete: die Söhne der christlichen Liebe, die sich heute in einem Dutzend Länder um Benachteiligte kümmern. Anizan starb am 1. Mai 1928 in Paris.