Als bei Libby Reifkind Lungenkrebs diagnostiziert wurde, konnte ihr nichts wirklich helfen. Ihr Arzt verschrieb eine aggressive Chemo und Bestrahlung, die ihr den Appetit nahmen. Was ihren Krebs bekämpfen sollte, vergiftete auch sie. Ihre Übelkeit wurde so schlimm, dass Libby kaum noch essen konnte. Schließlich riet ihr Arzt zu medizinischem Marihuana - das war 2009 aber noch illegal in Amerikas Hauptstadt Washington D.C.
"Sie konnte kein Marihuana bekommen", erzählt der Rabbiner Jeffrey Kahn, 61, Libbys Schwiegersohn. "Sie starb innerhalb von zwei Monaten und verlor über 45 Pfund (etwa 20,4 Kilo). Wir wussten, dass Marihuana einen Unterschied gemacht hätte. Wir wissen nicht, um wie viel es ihr Leben verlängert hätte, aber sicherlich hätte es einen Unterschied gemacht. Und es hätte ihr Ende nicht ganz so bitter gemacht.
Haltung der Politiker ändert sich
In den USA konsumieren ungefähr 2,4 Millionen Menschen legal medizinisches Marihuana. Sie leiden unter Krankheiten wie AIDS/HIV, Krebs, Multiple Sklerose oder der Augenkrankheit grüner Star. Lobby-Organisationen sagen, von einer Legalisierung wie in Colorado oder dem Bundesstaat Washington könnten noch viel mehr Menschen profitieren. Kritiker halten dagegen, Marihuana sei eine Einstiegsdroge, die zu noch gefährlicheren Substanzen führen könnte. Noch vor wenigen Jahren hätte die Mehrheit der Amerikaner dem zugestimmt.
Jeffrey Kahn eröffnete seine Marihuana-Abgabestelle in der Hauptstadt vor sechs Monaten. Jeder, der das Takoma Wellness Center betreten möchte, muss an einem Wachmann vorbei. Er kontrolliert, ob die Patienten die behördliche Genehmigung für medizinisches Marihuana haben. "Bis jetzt hatten wir noch keine Probleme", erzählt Kahn hinter seiner Theke mit verschiedenen Marihuana-Sorten. Manche sind grün und klumpig, andere senffarben und sandig. "Der Alkohol-Laden und die Apotheke um die Ecke verkaufen viel gefährlichere Drogen und haben größere Mengen an Geld", sagt Kahn. "Es ist viel wahrscheinlicher, dass sie überfallen werden."
Seiner Meinung nach ist Marihuana eher mit Nikotin, Kaffee und Alkohol zu vergleichen. Bei vielen seiner Patienten verbessere sich der Zustand, wenn sie Marihuana statt anderer Schmerzmittel, wie etwa starken Opioiden, erhielten. "Patienten ziehen medizinisches Marihuana anderen pharmazeutischen Mitteln vor, weil es nicht so stark ist, nicht so viele Nebenwirkungen hat und nicht so abhängig macht", sagt Kahn. Marihuana kann nicht nur als Schmerzmittel, sondern auch bei Appetitproblemen wie etwa nach einer Chemo helfen. Außerdem verringert es den Augeninnendruck, was den grünen Star therapieren kann. Nach Kahns Worten erlaubt Marihuana den Patienten, klarer zu denken und aktiver zu sein als unter Einfluss pharmazeutischer Mittel.
"Nichts an Marihuana ist chemisch süchtig machend"
Erik Altieri, der Pressesprecher der National Organization for the Reform of Marijuana Laws (NORML) erklärt, dass sich Marihuana "einfach mit dem schon im Körper vorhandenen System verknüpft". Es helfe, Organfunktionen oder Nervenenden zu regulieren und unterdrücke somit Muskelspasmen und chronische Schmerzen. "Nichts an Marihuana ist chemisch süchtig machend", sagt Altieri, 25, der seit sechs Jahren für NORML arbeitet.
###mehr-info### "Das ist nicht wie bei Nikotin, Heroin oder Kokain, bei denen die Substanzen ein System bilden und der Körper diese Substanzen benötigt, um noch funktionieren zu können." Altieri zuckt mit den Schultern. "Die Entzugserscheinungen von Marihuana sind höchstens ein paar Nächte schlechter Schlaf."
Denise Semashko, Notfallärztin im Westchester General Hospital in Miami, ist sich unsicher, was das Suchtpotential von Marihuana angeht. Ihre Kollegen und sie wüssten nicht, wie sie mit der Marihuana-Frage umgehen sollen - sie hätten das Gefühl, dass die Forschung noch nicht weit genug ist. "Ich sehe nicht, dass Marihuana viel schadet", sagt Semashko, "aber ich weiß nicht, ob ich meinen Patienten dazu raten würde." Als Notärztin behandelt sie immer mal wieder Patienten, die Marihuana von der Straße gekauft haben. "Manchmal ist das Marihuana mit anderen Substanzen wie Amphetaminen oder Kokain gestreckt. Manche Patienten halluzinieren oder können nicht mehr atmen - dann müssen wir sie intubieren, damit sie die Stoffe abbauen können", sagt Semashko. "Für sie wäre es sicherer, wenn sie wüssten, was sie kaufen."
Erik Altieri von NORML sagt, die einzige Gemeinsamkeit zwischen Marihuana und anderen Drogen sei die Kriminalisierung. Menschen, die einmal auf dem Schwarzmarkt eingekauft hätten, wüssten, wie er funktioniert und wo sie ihre Dealer finden, sagt Altieri. "Marihuana ist unglaublich einfach zu kriegen, einfacher als Alkohol oder Tabak, weil Dealer nicht den Ausweis kontrollieren."
Zu wenige Patienten
Kahn kontrolliert in seiner Abgabestelle ganz genau die Ausweise und behördlichen Genehmigungen, ob seine etwa 40 Patienten auch Marihuana bekommen dürfen. Fast alle seine Patienten sind über 40 Jahre alt. Das gesamte Medizinische Marihuana-Programm im District of Columbia schließt nur etwa 150 Patienten ein - viel zu wenig, kritisiert Kahn. Andere Bundesstaaten hätten viel mehr Patienten. Maine zum Beispiel habe mit 1,2 Millionen doppelt so viele Einwohner wie der District of Columbia und 12.000 Marihuana-Patienten. New Mexiko komme mit einer Million Einwohnern auf 10 000 Patienten. "Wir wären Narren zu denken, dass unser Bundesdistrikt auf wunderbare Weise keine kranken Menschen beheimatet", sagt Kahn. Jeweils drei Prozent der Großstadt-Bewohner hätten Krebs oder AIDS/HIV - zwei Bedingungen für eine Marihuana-Therapie. Das seien im District of Columbia etwa 36.000 Menschen. "Statistiken zeigen, dass etwa einer von zehn an einem Punkt Marihuana für seine Behandlung benutzen würde - also sollten wir um die 4000 Patienten haben und nicht 150", sagt Kahn.
###mehr-artikel### Die Marihuana-Bewegung hat einen langen Weg hinter sich. Seit 1937 ist Gras in den USA verboten. "Die 80er waren ziemlich hart für uns mit Ronald und Nancy Reagan und ihrer 'Sag einfach Nein'-Kampagne. Jahrelang gab es keine wirkliche Marihuana-Politik", sagt Altieri von NORML. In den 70ern klassifizierte der Kongress Marihuana als eine Substanz der Klasse I und stellte es auf eine Stufe mit Heroin. Das amerikanische Justizministerium bezeichnet auf seiner Homepage Drogen der Klasse I als Substanzen, die nicht medizinisch verwendet werden können und ein hohes Missbrauchspotential haben. Sie seien die gefährlichsten Drogen und machten stark körperlich und geistig abhängig.
Laut Morgan Fox vom Marijuana Policy Project (MPP) ist die Klassifizierung eine der wichtigsten Streitfragen. "Bis Marihuana von der Liste der kontrollierten Substanzen entfernt wird, droht den Staaten mit einer Marihuana-Legalisierung weiterhin die bundesstaatliche Einmischung", sagt der 30-Jährige. Die Obama-Regierung hat den Bundesstaaten jedoch versprochen, sich weiterhin nicht in ihre Marihuana-Gesetzgebung einzumischen.
"Die Regierung muss sich bewegen"
Kalifornien war mit 1996 der erste Staat, der ein medizinisches Marihuana-Programm einführte. Andere Staaten folgten, heute haben 20 Staaten und der District of Columbia einen Prozess der Legalisierung oder Dekriminalisierung gestartet. Nach einer Gallup-Umfrage vom Oktober 2013 befürwortet zum ersten Mal eine Mehrheit der Amerikaner die Legalisierung von Marihuana. Das stimmt die Lobby-Organisationen optimistisch: "In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden wir sehen, dass der Besitz von Marihuana zumindest dekriminalisiert wird", sagt Altieri. "Zwischen fünf und zehn andere Bundesstaaten werden zusätzlich zu Colorado und Washington Marihuana legalisieren. Und damit muss sich auch endlich die Bundesregierung bewegen und Marihuana deklassifizieren."
Diese Entwicklung könnte nach Altieris Einschätzung auch Europa beeinflussen. "Wir beobachten in der Europäischen Union eine große Diskussion, die Marihuana-Gesetze dort zu lockern. Alles, was sich in den Vereinigten Staaten bewegt, wird auch Europa helfen", sagt Altieri. Während die USA und Europa noch diskutieren, legalisierte Uruguay im Dezember 2013 als erster Staat Marihuana.