Dichter Nebel liegt über Priština. Auf dem Mutter Theresa Boulevard, der Haupteinkaufsmeile der Hauptstadt Kosovos, haben sich schon seit dem frühen Morgen Händler postiert. An einfachen Ständen verkaufen sie Mützen, Schals oder Strickjacken, alte Handys, Zigaretten oder heiße Maronen, putzen Schuhe. Florim Beqiri, 40 Jahre alt, das zause Haar unter einer großen Kapuze versteckt, blickt müde den Boulevard hinunter und wartet hinter seinem Verkaufstisch mit gebrauchten Büchern auf den ersten Kunden. "Ich stehe hier jeden Tag, auch im Winter, wenn es so kalt ist wie heute. Wir fangen um zehn Uhr Morgens an und stehen hier bis Abends." Und das seit 1999. Als der Krieg vorbei war, hat Florim seinen Job verloren und begonnen, Bücher zu verkaufen.
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Dem Ex-Soldaten und seiner Familie geht es immer noch besser als vielen seiner Landsleute. Über die Hälfte der 1,8 Millionen Einwohner Kosovos ist arbeitslos. Florims Frau arbeitet als Englischlehrerin in der Amerikanischen Schule, die hier nach dem Ende des Krieges 1999 eingerichtet wurde. Der Bürgerkrieg zwischen den großserbischen Nationalisten unter Slobodan Miloševi? und der UÇK, der "Befreiungsarmee des Kosovo", endete erst nach dem massiven Militäreinsatz der NATO-Truppen. 2003 wurde Kosovo offiziell Teil der Republik Serbien, 2008 hat der Mikro-Staat dann seine Unabhängigkeit erklärt. Bis heute wird Kosovo dabei von fünf EU-Mitgliedern und auch von den Vereinten Nationen völkerrechtlich nicht anerkannt. Die Kommunen im Norden fühlen sich zudem den Serben näher und erkennen die Regierung in Priština nicht an. Seit 2008 hilft die EU-Mission EULEX Kosovo dabei, rechtstaatliche Strukturen und eine stabile Polizeibehörde zu entwickeln. Ein Ende der Mission ist derzeit nicht in Sicht, das Land braucht die Hilfe aus Europa.
Der Euro steht für Stabilität und Wohlstand
Florim kauft und verkauft seine Bücher in Euro, die Kosovo als Fremdwährung übernommen hat. "Das ist das Symbol, das zeigt uns, dass wir zu Europa gehören", sagt er. "Anfang des Jahres hat Lettland den Euro eingeführt, und wir zahlen schon seit 2002 damit. Das ist irgendwie eine tragische Komödie. Wir brauchen sogar immer noch ein Visum für die EU. Das freut vor allem kriminelle Schleuserbanden."
Der Euro steht auf dem westlichen Balkan trotz der Eurokrise und hoch verschuldeter EU-Staaten für Stabilität und Wohlstand. Und die symbolische oder politische Nähe zur Europäischen Union ist ein Beweis dafür, dass man die Vergangenheit hinter sich gelassen hat. Slowenien ist als wirtschaftlich stärkstes Land der Region bereits 2004 der EU und 2007 der Währungsunion beigetreten, Kroatien ist seit Juli 2013 EU-Mitglied und Montenegro seit 2010 Beitrittskandidat. Unlängst hat auch die Republik Serbien Beitrittsgespräche mit der EU aufgenommen. Das wird im Nachbarstaat Kosovo mit gemischten Gefühlen aufgenommen.
Zweihundert Meter von Florims Bücherstand entfernt steht eines der neuen Regierungsgebäude der autonomen "Republik Kosovo". Ein moderner Büroturm aus Glas und Beton, 20 Stockwerke hoch. Gezim Kasapolli ist beigeordneter Minister für die EU-Integration Kosovos. Der 37-Jährige mit Goldrandbrille und schickem Anzug sagt, der Traum von Europa sei seit der Aussicht auf das Assoziierungsabkommen zu einem Plan geworden: eine Vollmitgliedschaft in der EU. "Die Europäische Union muss kreative Lösungen finden, wie sie Kosovo nicht auf dem Weg in die Gemeinschaft behindert", fordert Kasapolli in akzentfreiem Englisch. "Die EU will Erfahrungen aus der Vergangenheit absolut vermeiden, zum Beispiel mit Zypern und anderen Staaten, die aufgenommen wurden, ohne dafür vorbereitet zu sein. Wir haben den Eindruck, dass wir jetzt für frühere Fehler der EU bezahlen müssen. Wir werden strenger geprüft als andere", meint Kasapolli mit einer Mischung aus Ehrgeiz und Stolz. Er will sein Land unbedingt nach vorne bringen.
Ein erster Schritt ist getan: Im Laufe dieses Jahres wird Kosovo ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen, ein erstes Anzeichen in Richtung einer möglichen EU-Mitgliedschaft in unbestimmter Zukunft. Vieles ist dabei noch unklar: Wie kann die Union mit einem Staat verhandeln, der von fünf EU-Mitgliedern nicht anerkannt wird? Wie ernsthaft ist die Absicht der Union, den Mikro-Staat aufzunehmen? Wann kann Kosovo die wirtschaftlichen und vor allem die rechtsstaatlichen Kriterien für EU-Anwärter erfüllen?
Langfristig: Wirtschaft muss brummen
"Frühestens in 15 Jahren" meint Arbenit Mulolli. Der 20-Jährige studiert Wirtschaft an der Amerikanischen Universität in Priština. Gemeinsam mit seinen zwei Geschwistern hilft er nebenbei seinen Eltern in deren kleinem Hotel am Rande der Innenstadt. Das Geschäft läuft mäßig, meint Arbenit, außer wenn US-Rapper aus dem Westen wie 50cent oder Snoop Dog in der Stadt spielen, dann sind die 12 Zimmer ausgebucht. "Meine Großeltern konnten unter dem großserbischen Regime nicht studieren. Wir müssen unsere Mentalität ändern. Das Wichtigste ist die Wirtschaft: wenn die brummt, können wir in die Bildung investieren, dann werden die Menschen hier lernen, wie man in der Wirtschaft Geld verdienen kann. Aber das wird noch ein Weilchen dauern."
Wenn Kosovo erst einmal in die UEFA aufgenommen wird und wichtige europäische Fußball-Spiele in Priština stattfinden, dann sei das gut für die Wirtschaft und natürlich auch für das Hotel, meint Arbenit. Der riesige Sportpalast aus Titos Zeiten im Süden Prištinas dient heute allerdings als Parkhaus, und das benachbarte Stadion wurde im Krieg zerstört. "Wir sind ein stolzes Volk", sagt Arbenit, der zum albanischen Teil der Bevölkerung Kosovos gehört. "Wir werden das schaffen!" Auch Buchhändler Florim ist überzeugt, dass Kosovo früher oder später näher an die EU heranrücken wird, genauso wie die anderen Staaten der Region. Das Wichtigste wäre für ihn die Reisefreiheit, um endlich seinen Bruder in Berlin besuchen könnten. "Wie kann ich meinen Kindern erklären, dass sie ihren Onkel an Weihnachten nicht besuchen können?" Florim will in Berlin außerdem gebrauchte Bücher kaufen, um sie in Priština zu verkaufen. Deutsche Bücher seien gefragt in der Universitätsstadt. Arbeiten, sagt er noch, wolle er in Deutschland nicht. "Ich will in Kosovo mein Volk unterstützen."