Moderatorin Anne Will mit dem Medienrechtsanwalt Christian Schertz und dem Linken-Politiker Diether Dehm
Foto: NDR/Wolfgang Borrs
Moderatorin Anne Will mit dem Medienrechtsanwalt Christian Schertz und dem Linken-Politiker Diether Dehm
Wulff-Prozess bei Anne Will: Wer fällt das Urteil?
Im Prozess gegen Christian Wulff wegen des Verdachts der Vorteilsnahme im Amt wird vermutlich an diesem Donnerstag das Urteil gesprochen. Beobachter rechnen mit einem Freispruch des ehemaligen Bundespräsidenten. Viele sehen den Politiker inzwischen nicht mehr als Täter, sondern als Opfer von Medien und Justiz. Anne Will diskutierte mit ihren Gästen die Frage, wie gerecht der Prozess war.

Eines ist klar – egal wie der Prozess gegen Christian Wulff am Ende ausgehen wird, die Verhandlung ist schon jetzt in die Geschichte Deutschlands eingegangen. Erstmals ist ein Bundespräsident zurückgetreten, weil gegen ihn ermittelt wurde. Vermutlich – so sehen es jedenfalls die meisten Prozessbeobachter – wird Christian Wulff freigesprochen werden.

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Seit Beginn des Prozesses im vergangenen November scheint sich die öffentliche Meinung über den ehemaligen Bundespräsidenten geändert zu haben: Viele sehen ihn heute nicht mehr als Täter, sondern als Opfer von Medien und Justiz. Dafür steht die Staatsanwaltschaft stärker denn je unter Beschuss. Machte das Magazin "Der Spiegel" Ende 2011 noch mit Wulff und dem Titel "Der falsche Präsident auf", liest man auf dem Cover der aktuellen Ausgabe: "Die Scharfmacher – Eine Klage gegen Deutschlands Staatsanwälte". Deutlich unaufgeregter als das Magazin widmete sich Anne Will in ihrer Talkshow der Rolle von Justiz und Medien im Fall Wulff. Mit ihren Gästen wollte sie die Frage "Im Visier der Staatsanwälte – Wie gerecht ist der Wulff-Prozess?" diskutieren.

"Gibt es einen Anfangsverdacht bei einem Amtsträger, steht die Staatsanwaltschaft vor der Wahl zwischen Pest und Cholera", sagte Medienrechtsanwalt Christian Schertz in der Sendung. Geht sie dem Verdacht nicht nach, kann man ihr vorwerfen, Menschen vor dem Gesetz nicht gleich zu behandeln. Nimmt sie jedoch die Ermittlungen auf, nötigt sie den Verdächtigen zum Rücktritt. Die Amtsaufgabe von Christian Wulff sei mit Aufnahme der Ermittlungen nicht nur unausweichlich, sondern richtig gewesen, ergänzt der Jurist – auch für den Fall, dass Wulff am Ende freigesprochen wird.

"Die Richter hätten das Verfahren nicht eröffnen dürfen"

"Wulff und seine Freunde versuchten den Fall tölpelhaft unter Kontrolle zu bringen", sagte Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. "Doch jeder Kontrollversuch führte zu einem erneuten Kontrollverlust." So sei dann auch der Anfangsverdacht entstanden, der zur Aufnahme der Ermittlungen und damit zur Aufhebung von Wulffs Immunität geführt habe. "Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Staatsanwaltschaft die einzige Institution ist, die Mächtigen in solchen Fällen entgegentreten kann. Wenn ich die Schwelle für Ermittlungen zu hoch setze, bleibt zu viel im Dunkeln", erklärte Andreas Kreutzer, Vorsitzender des Niedersächsischen Richterbundes, die niedrige Hürde zum Anfangsverdacht. Eine Vorverurteilung der Justiz zu Beginn der Ermittlungen hat es also nicht gegeben – darin war sich fast die ganze Runde einig. Widerworte gab es allein vom Linken-Politiker, Wulff-Freund und -Verteidiger Diether Dehm.

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"Nachdem die Staatsanwaltschaft dazu beigetragen hat, dass Christian Wulff zurückgetreten ist, stand sie unter dem Druck liefern zu müssen", erklärte Schertz den ungewöhnlich hohen Ermittlungsaufwand. Es sei nicht darum gegangen, jemanden zu Fall zu bringen, sondern den Fall zu klären, ergänzt die Juristin und ARD-Reporterin Sarah Tacke, die den Prozess gegen Christian Wulff journalistisch begleitet hatte. Mit dem Ende der Ermittlungen hätte es jedoch vorbei sein müssen, meinte Schertz: "Die Richter hätten das Verfahren aufgrund dessen, was ermittelt wurde, nicht mehr eröffnen dürfen." Hier widersprach ihm nicht nur Kreutzer, sondern auch Tacke. "Wir sind im Fall Wulff in einem Graubereich zwischen legalem Lobbyismus und Korruption", urteilte sie.

"Das eigentliche Urteil fällt die Öffentlichkeit"

Kritik am Handeln der Justiz gebe es nicht nur im Fall Wulff, sagte Anne Will und erinnerte an den Fall Sebastian Edathy. Auf einer Pressekonferenz hatten die Ermittler wichtige Details aus der Akte bekannt gegeben und den SPD-Politiker damit in der Öffentlichkeit vorverurteilt. "Diese Pressekonferenz hat mit einem Rechtsstaat nichts mehr zu tun", sagte Schertz und erinnerte an die Unschuldsvermutung. Die Kommunikationslust der Staatsanwälte sei kein Einzelfall: "Früher waren Ermittlungsbehörden wie eine verschlossene Auster", erinnerte sich Schertz. "Seit geraumer Zeit schicken die Pressestellen der Staatsanwaltschaften jedoch immer wieder Informationen raus." Kreutzers Argument, man müsse mit den Verteidigern gleichziehen, die immer häufiger die Medien für sich nutzten, ließ Schertz nicht gelten. "Verteidiger haben die Aufgabe, Mandanten zu vertreten, die Staatsanwaltschaft ist nicht der Gegner, sondern eine neutrale Behörde", sagte er. Dass die Staatsanwaltschaft so offensiv auf Medien zugeht, wundert Pörksen nicht: "Sie haben etwas Wesentliches und Tragisches erkannt: Das eigentliche Urteil fällt nicht mehr im Gerichtsaal, sondern in der Öffentlichkeit", erklärte er.

Auch im Fall Wulff spielten die Medien eine zentrale Rolle. Erst hatte die Berichterstattung der Bild-Zeitung die Affäre ausgelöst – später warf man der Presse eine Kampagne gegen Wulff vor. Dem widersprach Bernhard Pörksen. Bei der Recherche und Berichterstattung zur möglichen Bestechlichkeit des Politikers hätten die Journalisten lediglich ihren Job erfüllt. "Allerdings gab es auch Grenzüberschreitungen – der Bobbycar ist ein Symbol dafür", ergänzte er. Dahm hingegen ist überzeugt, dass die Medien bewusst eine Kampagne gegen Wulff gefahren hätten, weil er als erster und bislang einziger Bundespräsident die Banken kritisiert habe. Von einer solchen Verschwörung will Sarah Tacke nichts wissen. Christian Wulff habe sich selbst verdächtig gemacht, indem er immer nur Teilwahrheiten an die Öffentlichkeit gebracht habe: "Wenn man keinen reinen Tisch macht, hat man Mediendeutschland gegen sich", sagte sie.

Besonnen und überlegt diskutierten die Gäste von Anne Will miteinander. Es ging nicht darum, Medien oder Justiz von allen Vorwürfen reinzuwaschen – auch wenn man sich manchmal etwas mehr (Selbst-)Kritik gewünscht hätte. Stärker noch hätten die Aufgaben von Medien und Justiz herausgestellt werden können. Die Presse muss sich fragen, wann eine kritische Berichterstattung nicht nur erlaubt, sondern notwendig ist und ab wann ein Thema zur Hetzjagd wird. Eine Staatsanwaltschaft darf nicht vergessen, wie wichtig der Persönlichkeitsschutz und die Unschuldsvermutung für einen Menschen sind. Wenn die Wulff-Affäre dazu einen Beitrag leistet, ist viel gewonnen.