"Der kleine Zeuge", "Der einzige Zeuge", kürzlich "Der letzte Kronzeuge", nun "Stummer Zeuge": Es bringt stets einen besonderen Nervenkitzel mit sich, wenn Kinder einen Mord beobachten und anschließend prompt in Lebensgefahr schweben. In diesem Beitrag zur Krimi-Reihe "Mordkommission Istanbul" nimmt sich Kommissar Mehmet Özakin (Erol Sander) des kleinen Ersun an. Der Junge musste mit ansehen, wie seine Eltern kaltblütig hingerichtet worden sind, und flieht in Panik. Als Özakin ihn endlich aufspürt, stellt er fest, dass der Schock Ersun buchstäblich die Sprache verschlagen hat.
Ähnlich wie bei den gleichfalls von der ARD-Tochter Degeto in Auftrag gegebenen Reihen "Kommissar LaBréa" (Paris), "Toni Costa" (Ibiza) oder den Verfilmungen der Romane von Donna Leon (Venedig) liegt der Reiz von "Mordkommission Istanbul" nur bedingt in der Originalität der Geschichten; ohne die pittoresken Schauplätze wären es Krimis wie viele andere. Natürlich arbeiten auch die nach Motiven der Romane von Hülya Özkan entstandenen Filme vom Bosporus mit den üblichen Stadtansichten, die mit der Handlung nichts zu tun haben, aber als Kapiteltrenner zwischen zwei Szenen für Atmosphäre und Exotik sorgen sollen; doch in den Filmen von Michael Kreindl, der die Reihe mittlerweile ähnlich prägt wie Sigi Rothemund die Venedig-Krimis, wirken sie weniger willkürlich.
Der Junge liefert den Schlüssel zur Lösung
Größte Sehenswürdigkeit aber ist selbstredend Erol Sander. Auch wenn ihm die Rolle nicht viel Spielraum lässt: Selbst im einfachen weißen Hemd und schlichtem dunklen Anzug sieht der Mann großartig aus. Die komödiantische Ebene, auf der Özakin die Tollpatschigkeiten seines Kollegen Mustafa (Oscar Ortega Sánchez) mit angedeutetem schiefen Grinsen kommentiert, fällt im Drehbuch von Mathias Klaschka diesmal deutlich sparsamer aus als sonst. Dafür hat Sander einige Actionszenen, in denen er eine nicht minder gute Figur macht. Während eines Zweikampfs krachend auf einem Tisch zu landen, der unter ihm zusammenbricht: Das hat nicht jeder Schauspieler drauf.
Für die Gefühle sorgen in dieser Geschichte vor allem die Kinder, und das nicht nur wegen Ersun: Mehmets Frau Sevim (Idil Üner) ist womöglich schwanger, was dem Gatten gut gefällt. Nachwuchs täte der ehelichen Erzählebene ohnehin gut, zumal Sander, selbst zweifacher Vater, schon oft genug bewiesen hat, dass er ausgezeichnet mit Kindern arbeiten kann. Entsprechend glaubwürdig sind die Szenen mit dem Jungen, den Özakin schließlich mit nach Hause nimmt, nachdem Ersun im Krankenhaus eine Panikattacke bekommen hat. Weil er aber nach wie vor stumm bleibt, folgt der Ermittler einer Spur in einen Boxclub, wo ein Staatssekretär gerade eine schwungvolle Rede hält. Da der Politiker von Erdo?an Atalay ("Alarm für Cobra 11") verkörpert wird, ahnt man selbstredend, dass dies nicht die letzte Begegnung der beiden bleiben wird. Der Boxclub entpuppt sich als Basis eines schwunghaften Drogenhandels; aber das erklärt trotzdem nicht, warum Ersuns Eltern sterben mussten. Am Ende liefert der Junge doch noch den Schlüssel zur Lösung.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wie stets bei den im Ausland spielenden Degeto-Filmen irritiert mitunter die Mischung aus Originaldialogen und glattem Synchrondeutsch. Und dass vierschrötige Randfiguren einen Slang sprechen, als seien sie in prekären Bezirken Berlins aufgewachsen, passt zwar zur Rolle, aber nicht zum Schauplatz. Dafür ist die Geschichte abwechslungsreich und dank vieler Ortswechsel und diverser Straßenszenen optisch aufwändig (Bildgestaltung: Stefan Spreer). Die Musik (Titus Vollmer) gibt den Bildern die nötige Dynamik. Dramaturgisch geschickt ist auch die Idee, vor dem Finale alle handelnden Personen vorübergehend zur Ruhe kommen zu lassen.