Stolz hängt die Plakette an einer Säule in der Leipziger Thomaskirche, nur ein paar Meter von der Kanzel entfernt. Mit wenigen Wörtern verweist sie auf ein bedeutendes Ereignis am 25. Mai vor 475 Jahren: "Hier predigte D. Martin Luther bei d. Einführung der Reformation a. Pfingstsonntage 1539", steht auf ihr geschrieben. Schwere, hölzerne Kirchenbänke umrahmen das Schild, jeder Besucher kommt unweigerlich an ihm vorbei, wenn er durch das Kirchenschiff läuft. Luther gehört heute zu Leipzig wie der Thomanerchor und die friedliche Revolution. Doch vor fast 500 Jahren war diese enge Beziehung längst nicht selbstverständlich. Die katholische Elite der Stadt im albertinischen Sachsen haderte mit dem Reformator und Luther selbst fand kaum lobende Worte für die Leipziger.
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"Luther hat Leipzig viel zu verdanken", meint Stefan Rhein, Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt. "Nur mit Wittenberg wäre er niemals so populär geworden, er brauchte die große Stadt und vor allem die Verlage", fügt er hinzu. Ende 1517 sei Martin Luther noch ein weitgehend unbekannter Mönch gewesen, ein Professor für Bibelexegese an einer noch jungen Universität, doch der Leipziger Buchdruck brachte den Durchbruch: Bis 1519 seien 45 Einzelpublikationen in insgesamt 259 Auflagen gedruckt worden – 110 davon in Leipzig, erklärt Rhein. "In keiner anderen Stadt sind damals so viele Lutherschriften erschienen, nicht einmal in Wittenberg."
Und doch schimpfte Luther häufig über die Leipziger. In einer Tischrede, die auf die frühen 1540er Jahre datiert ist, heißt es: "Leipzig ist wie Sodoma und Gomorrah mit hurerey und wucher überschuttet, darumb kans ihnen nicht wohl gehen. Es geschieht ihnen recht, sie woltens nicht anders haben. Ich bin da gewest, will nicht mer hinkomen." Luther schäumte über Geiz, hohe Zinsen und ein lasterhaftes Leben in der Messestadt. Aber woher kam diese scharfe Ablehnung? War es tatsächlich nur die Missbilligung der wirtschaftlichen Eifrigkeit der Leipziger?
"Leipzig liegt im Meer des Geizes ersoffen"
Stiftungsdirektor Rhein vermutet, der Reformator sei auch ein wenig nachtragend gewesen, habe nie die schlechte Behandlung vergessen, die er in den Sommerwochen 1519 in Leipzig erfahren musste. Damals kam Luther zur sogenannten Leipziger Disputation auf die Pleißenburg. Dort debattierten Luther, der Wittenberger Theologieprofessor Andreas Karlstadt und ihr katholischer Gegenspieler Johannes Eck über Religionsfragen. Luther hatte einen schweren Stand: Eck versuchte ihn als Ketzer darzustellen und der katholische Herzog Georg der Bärtige (1471-1539) stand dem Reformator mehr als skeptisch gegenüber.
Dies zeigte sich auch in seiner Gastfreundschaft: Eck wurde die Herberge gezahlt, den Wittenbergern nicht; von Herzog Georg erhielt der Papist als Gastgeschenk einen Hirsch, Luther wurde nicht bedacht. "Die Leipziger haben uns weder begrüßt noch besucht und wie ihre verhaßten Feinde behandelt", empörte sich der Reformator. "Was immer sie erdenken konnten, taten sie, um uns zu beleidigen."
1539 starb Herzog Georg der Bärtige und Luther stattete Leipzig zum ersten Mal seit 18 Jahren wieder einen Besuch ab. Offensichtlich hatte sich seine Meinung zu der Stadt in der Zwischenzeit nicht sonderlich gebessert: Laut einer Tischrede, die sein Freund Anton Lauterbach 1538 ins Tagebuch schrieb, erklärte Luther: "Leipzig liegt im Meer des Geizes ersoffen tiefer denn die Berge in der Sündfluth; die lagen nur zehn Ellen tief im Wasser, sie liegt aber funfzehn Meilen Wegs tief unter den Wellen des Geizes."
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Geizig waren auch wieder die Gastgeber, als Luther 1539 zur Einführung der Reformation predigte. Der Herzog war tot, doch sein katholischer Geist wehte noch immer durch die Gassen Leipzigs. Vor allem die Reichen und Mächtigen der Stadt hielten sich noch an alten Gepflogenheiten. "Die Kaufmänner, die Stadtoberen, insgesamt die Führungsschicht hat natürlich über Jahrzehnte hinweg mit der Obrigkeit taktiert", sagt Rhein. Dementsprechend reserviert habe die Obrigkeit auf Luther reagiert, kein Stadtrat gedachte dem Gast wie sonst üblich ein Geschenk darzubringen.
Überfüllte Kirche zu Luthers Pfingstpredigt
Der Reformator ärgerte sich über die Gastunfreundlichkeit, die ihm 1519 und nun auch wieder von der Obrigkeit entgegengebracht wurde. "Luther war ein selbstbewusster, zuweilen sogar cholerischer und stets sehr stolzer Mann", sagt Rhein. "Er hatte eine Wut auf die Leipziger, dass sie ihn nicht schätzen und achten."
Doch so reserviert die Stadtoberen waren, so neugierig war die breite Bevölkerung. Trotz des Verbotes durch den katholischen Herzog wurden seine Schriften auch schon seit Jahren in Leipzig gelesen, durch Reisende erfuhr die Bevölkerung von seinen Predigten in anderen Städten. So war auch der Andrang zu Luthers Predigt in der Thomaskirche immens: Laut Rhein standen die Menschen auf Pfeilern und Absätzen, einige legten sogar von außen Leitern an und drückten die Fenster ein.
Dadurch zeigte zumindest die gemeine Stadtbevölkerung dem Reformator, dass er in Leipzig ein höchst interessanter und dadurch willkommener Gast war. Und heute gibt es ohnehin keine Diskussion mehr über die Bedeutung Luthers für die Stadt. Zum 475-jährigen Jubiläum gibt es zahlreiche Veranstaltungen in Leipzig zu Ehren des Reformators, auch die Thomaskirche öffnet ihre Türen für eine Disputation nach dem Vorbild von 1519. Das Thema entspricht dem aktuellen Jahresthema der Lutherdekade und ist damals wie heute aktuell: Reformation und Politik.