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Organspende: Das Dilemma mit dem Tod
"Nach meinem Tod brauche ich meine Organe doch nicht mehr", sagen Befürworter der Organspende. "Warum soll ich sie dann nicht zur Transplantation freigeben, um damit Leben retten?" Diese Argumentation ist auf den ersten Blick bestechend. Dennoch sinkt die Spendenbereitschaft. Das hat auch mit Fehldiagnosen beim Hirntod zu tun.

Die großen christlichen Kirchen stehen der Organspende positiv gegenüber. 1990 betonten sie in einer gemeinsamen Erklärung, dass "in der Organspende noch über den Tod hinaus etwas spürbar werden [kann] von der ‚größeren Liebe‘, zu der Jesus seine Jünger auffordert". So bezeichnete auch Friedrich Weber, Bischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche, die Organspende als "Ausdruck christlicher Nächstenliebe und Solidarität". Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider erklärte im November 2012: "eine Entnahme von Organen verletzt nicht die Würde des Menschen und stört nicht die Ruhe der Toten." Auch wenn er eine christliche Verpflichtung zur Organspende nicht postulieren mochte, legt der Verweis auf das Gebot der Nächstenliebe eine Entscheidung pro Organspende nahe.

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Doch die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) schlägt angesichts historisch niedriger Spenderzahlen Alarm: 2013 brach die Zahl der Spender im Vergleich zum Vorjahr um rund 16 Prozent auf 876 ein. Das ist der niedrigste Wert seit der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes, das auf eine Steigerung der Spendenbereitschaft zielt.

In Deutschland gilt seit November 2012 die sogenannte Entscheidungslösung. Sie schreibt vor, dass jeder regelmäßig in die Lage versetzt werden soll, sich mit der Frage nach einer Organ- oder Gewebespende ernsthaft zu befassen und die eigene Entscheidung freiwillig zu dokumentieren. Seither müssen die Krankenkassen regelmäßig Organspendeausweise verschicken.

Das seit 1997 geltende deutsche Transplantationsgesetz legt außerdem fest, dass die Angehörigen eine Entscheidung nach dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen treffen müssen, wenn keine andere Willensbekundung vorliegt. In einer seelischen Ausnahmesituation werden sie mit Fragen wie "War Ihr Angehöriger ein sozialer Mensch?" konfrontiert, die auf die Zustimmung zur Organentnahme zielen. Nur wer zu Lebzeiten eine Entscheidung für oder gegen eine Organspende trifft und sich über die Hintergründe informiert, kann seinen Angehörigen eine solche Situation ersparen.

Hirntod – ein umstrittenes Kriterium

Voraussetzung für die Entnahme von Spenderorganen ist der Hirntod des Spenders. Mit dem Kriterium Hirntod wurde 1968 an der Harvard Medical School eigens für die Transplantationsmedizin eine Neudefinition des Todes eingeführt. Als tot gilt ein Mensch seither nicht erst dann, wenn das Herz aufgehört hat zu schlagen, sondern wenn das Gehirn irreversibel versagt. So ist es möglich, Organe von Menschen zu entnehmen, deren Herz noch schlägt. Wäre ein Organspender im herkömmlichen Sinne "tot", wären seine Organe medizinisch nicht verwendbar.

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Der Stuttgarter Kardiologe und Neurologe Dr. Paolo Bavastro, der sich seit 30 Jahren mit dem Thema Organspende befasst, hält die Gleichsetzung von Tod und Hirntod für "eine interessengeleitete Umdefinition des Todes". Es gehe um die Beschaffung von Organen, wobei der Bedarf prinzipiell niemals zu decken sein werde, urteilt er. Sterbende für tot zu erklären, um ihnen Organe entnehmen zu können, bezeichnet er als "arglistige Täuschung".

Auch der Buchautor Rudolph Fuchs kritisiert, dass bei der Werbung für die Organspende wichtige Fakten verschwiegen würden. Denn "beatmete Hirntote weisen alle Zeichen von Lebenden auf. Sie schwitzen, verdauen, ihre Wunden heilen, manchmal bewegen sie sich sogar", erklärt er.

Dass Organspender lediglich hirntot, aber nicht tot sind, wird auch im Organspendeausweis nicht dargelegt. "Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen und Gewebe in Frage kommt, erkläre ich: Ja, ich stimme zu, dass nach der ärztlichen Feststellung meines Todes meinem Körper Organe und Gewebe entnommen werden", heißt es dort. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) und die Bundesärztekammer sprechen ebenfalls von "postmortaler Organspende". Dr. Paolo Bavastro hält es für redlicher, im Fall einer Organentnahme von "gerechtfertigter Tötung" zu sprechen und das auch gesetzlich zu verankern, statt weiter am Hirntod-Konzept festzuhalten.

Zweifel an der Diagnostik

Ein Fall wie der des 19jährigen Forstarbeiters Benni J., der 2002 nach einem Motorradunfall für hirntot erklärt wurde, weckt darüber hinaus Zweifel daran, ob die ärztliche Diagnose "Hirntod" stets korrekt gestellt wird. Bennis Mutter jedenfalls lehnte die Bitte der Ärzte ab, ihren vermeintlich hirntoten Sohn zur Organentnahme freizugeben. Im weiteren Verlauf zeigte sich, dass seine Hirnfunktionen nicht komplett ausgefallen waren. Benni war "lediglich" im Wachkoma, einem Zustand tiefer Bewusstlosigkeit, in dem die Hirnfunktionen teilweise erhalten und nachweisbar sind. Die Mutter brachte ihren Sohn zum Bergneustädter Verein "Patienten im Wachkoma", der auf die Pflege und Reha-Maßnahmen solcher Patienten spezialisiert ist. Als Benni dort nach einem Jahre gegen alle Erwartungen aufwachte, machte seine Geschichte bundesweit Schlagzeilen. Heute ist Benjamin J. wieder arbeitsfähig.

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Die Journalistin Mechthild Müser weist auf einen weiteren spektakulären Fall hin. Nach einem schweren Verkehrsunfall lag der junge Brite Stephe Thorpe angeblich hirntot auf der Intensivstation. Der Vater, selbst Arzt, verweigerte die Zustimmung zur Organspende, weil er der Diagnose misstraute. Steven Thorpe erholte sich und studiert heute.

Die beiden Fälle passen zur Studie des Hannoveraner Neurologen Dr. Hermann Deutschmann. Dem Hirntod-Diagnose Spezialisten waren während seiner Tätigkeit für die Pro-Organspende-Organisation Zweifel an der Qualität der Hirntoddiagnostik in Kliniken gekommen. Er untersuchte deshalb 230 von Krankenhausärzten unterschriebene Hirntodprototkolle und stellte in 30 Prozent der Fälle Fehler fest. Dabei handelte es sich nicht nur um geringfügige dokumentarische Mängel wie ein fehlendes Datum, sondern auch um schwerwiegende Versäumnisse. Mal war ein vorgeschriebener Test nicht korrekt durchgeführt worden, mal wurde beim EEG ein Null- Ausschlag attestiert, obwohl die Kurve einen Ausschlag anzeigte. Oder die Untersuchung wurde durchgeführt, obwohl Schlafmittel im Körper war, was einen Ausfall der Hirnfunktionen vortäuschen kann.

Aus Deutschmanns Sicht mangelt es vielen Medizinern an Sachkenntnis und Erfahrung. Genau wie Bavastro fordert er deshalb eine durch die Bundesärztekammer zertifizierte Ausbildung für Hirntoddiagnostiker.

Evangelische Frauen fordern Weiterentwicklung

Der wachsenden Kritik hat sich im Jahr 2013 auch der Dachverband der Frauenverbände in der evangelischen Kirche (EFiD) mit einem 80 seitigen fundierten Positionspapier zur Organtransplantation angeschlossen. "Hirntote Menschen sind keine Leichen, sondern Sterbende", zeigt sich jetzt auch EFiD-Vorsitzende Ilse Falk überzeugt und fordert folgerichtig, dass Organe nur unter Vollnarkose entnommen werden dürfen. Der Dachverband spricht sich nicht generell gegen die Organspende aus, sondern hält einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über das Hirntodkonzept als Grundlage der Transplantationsmedizin in Deutschland für nötig. Eine Textänderung im Organspendeausweis gehört ebenso zu den Forderungen der evangelischen Frauen wie die Stärkung der Rechte des Pflegepersonals und der Angehörigen. Zur Klärung biblischer und theologischer Perspektiven solle die Evangelische Kirche in Deutschland eine Studie zum bisherigen Hirntodkonzept in Auftrag geben.

Bei Menschen wie Susanne Krahe, (Jahrgang 1959) denen dank einer gelungenen Organtransplantation eine Lebensverlängerung geschenkt wurde, überwiegt die Dankbarkeit. Die Theologin und Schriftstellerin, die sich selbst als frühere Gegnerin der Organtransplantation bezeichnete, lebt seit 20 Jahren sehr bewusst "mit den Lebensresten" ihres Spenders. Sie führt, wie sie es nennt, "ein angeknüpftes Leben in Gemeinschaft mit dem geschenkten Organ und seinem Spender". Ihr Lebenshunger war stärker als die Kraft, aus Glauben in den Tod einzuwilligen. "Ich musste lernen, dass in die Schwäche des Leibes seine Weigerung zu sterben eingeschlossen war", schreibt sie in der Diskussion mit dem Dialysepatienten und  Theologen Eberhard Finke, der eine Transplantation für sich ablehnt.

Dabei weiß Susanne Krahe, dass durch ein Spenderorgan lediglich ein Aufschub des Sterbens erreicht werden kann. Heute hat sie das Gefühl, "mein Spender sei mir nur einen winzigen Schritt vorausgegangen und habe mir den Weg ins Jenseits bereits geebnet". Zugleich sieht sie die Notwendigkeit, die Paradoxien und das Dilemma, das die medizinische Möglichkeit der Organtransplantation mit sich bringt, auch theologisch zu durchdenken.