20 Jahre ist es her, dass Michael Davies Kindersoldat im westafrikanischen Sierra Leone war.
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20 Jahre ist es her, dass Michael Davies Kindersoldat im westafrikanischen Sierra Leone war.
"Jeden Tag aufstehen und ums Überleben kämpfen"
Heute fühlt Michael Davies sich sicher, er lebt in Bremen. Als er 16 war, hatte er Tag für Tag den Tod vor Augen. Ein Maschinengewehr war sein ständiger Begleiter. Er war Kindersoldat in Sierra Leone.
12.02.2014
epd
Martina Schwager

In seinen Träumen ist manchmal wieder Krieg. Dann rennt Michael Davies barfuß durch den Regenwald, 16 Jahre alt, die Maschinenpistole fest umklammert. Er flieht in Panik durch dichtes Buschwerk, scharfe Gräser schneiden in seine Beine. Er stolpert über Baumwurzeln, springt wieder auf, hetzt weiter. Gewehrsalven rattern. Ein Kamerad neben ihm stürzt, bleibt liegen. 20 Jahre ist es her, dass Michael Davies Kindersoldat im westafrikanischen Sierra Leone war. 

"Die einzige Möglichkeit, sich nicht von den anderen erschießen zu lassen, war damals: Man musste selbst töten", sagt Davies, der heute in Bremen lebt. "Jeden Tag aufstehen und ums Überleben kämpfen. Jeden Tag Schwerverletzte und Leichen sehen. Jeden Tag wissen, man könnte der Nächste sein. Jeden Tag mit der Waffe in den Krieg ziehen - das ist nicht das, was Kinder tun sollten."

Musik als Medizin

Rund 250.000 Mädchen und Jungen unter 18 Jahren werden nach Schätzungen von Hilfsorganisationen weltweit als Kindersoldaten eingesetzt, von Armeen und Rebellen gleichermaßen.

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Am "Red Hand Day", dem 12. Februar, fordern Hilfsorganisationen im "Deutschen Bündnis Kindersoldaten" ein Ende der Ausbeutung von Minderjährigen in Kriegen. Sie sollen aus Milizen und Armeen entlassen, Zuwiderhandlungen vor Gericht gestellt und hart bestraft werden.

Michael Davies ist jetzt 35, trägt Sonnenbrille, weiche Lederstiefel, einen schwarzen Mantel aus Fellimitat. Der graue Strickschal ist locker um den Hals gelegt, die schwarzen Haare zu kleinen Zöpfen geflochten, die sich in exakten Linien über die Kopfhaut ziehen. Im Studio greift er seine Gitarre, fängt an zu singen.

Die Texte schreibt er selbst. Sie handeln von Liebe und schönen Mädchen, von der Freude am Leben. In der "Michael Davies Group" spielt er mit zwei deutschen Freunden zusammen, auf Hochzeiten, Stadtteilfesten oder kleinen privat organisierten Konzerten. "Die Musik hat mir geholfen, mich zu befreien", sagt er ernst, "sie war meine Medizin".

Billig, schutzlos, manipulierbar

Sein Onkel - er war Offizier in der Regierungsarmee - hatte den 16-Jährigen damals unter einem Vorwand in seine Kaserne mitgenommen. Dort waren viele Minderjährige: "Wir bekamen ein bisschen Training, wie man mit dem Gewehr umgeht. Dann mussten wir gegen die Rebellen kämpfen. 'Schützt unser Land' hat man uns befohlen", erzählt er. "Als Kind bist du naiv und glaubst, das ist richtig. Außerdem hast du keine Chance, die Kaserne zu verlassen und in dein Dorf zurückzukehren."

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Unzählige Kinder wurden wie Michael Davies in den 80er und 90er Jahren in Bürgerkriegen wie in Mittelamerika und Sierra Leone rekrutiert, von Armeen und Rebellen. Seither hat sich die Zahl der Kindersoldaten vermutlich verringert, sagt Ralf Willinger vom Kinderhilfswerk terre des hommes. Ihr Einsatz in bewaffneten Konflikten ist nach UN-Recht inzwischen verboten. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag verfolgt die Rekrutierung von Kindern als Kriegsverbrechen.

"Das alles hat durchaus zu einem Bewusstseinswandel geführt", sagt Willinger. "Heute versuchen immer mehr Machthaber und auch Rebellenführer den Ruf loszuwerden, sie würden Kinder in ihren Armeen ausbeuten."

Und dennoch: Jedes Jahr brechen neue Konflikte aus, wie jüngst in Syrien, dem Südsudan, Mali oder der Zentralafrikanischen Republik. "Wenn sie größere Ausmaße annehmen und länger andauern, werden immer auch Kinder eingesetzt, und zwar schon ab einem Alter von acht Jahren. Sie sind billig, schutzlos und leicht zu manipulieren". Mehrere Zehntausend sind es derzeit allein in Birma, Tausende auf den Philippinen, in Indien, im Kongo, Sudan, Afghanistan und Kolumbien.

Waffenexporte stoppen

Das Bündnis Kindersoldaten fordert auch einen Stopp von Waffenexporten in Regionen, in denen Kindersoldaten eingesetzt werden. "Das gilt besonders für Deutschland, den weltweit drittgrößten Waffenexporteur", sagt Willinger. Vor allem die Lieferungen von Kleinwaffen und von ganzen Fabriken zur Herstellung solcher leichten Waffen mit großer Durchschlagskraft - wie das G3 und das neue G36 des deutschen Unternehmens Heckler & Koch - ist den Organisationen ein Dorn im Auge. Denn sie sind es, mit denen Kinder und Jugendliche weltweit ausgestattet und auch getötet werden.

Manfred Rekowski, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland:

Das G3 wurde auch in Michael Davies' Einheit benutzt. Der 16-Jährige gewöhnte sich an das Leben als Kämpfer: "Irgendwann ist die Kaserne dein Zuhause, irgendwann bist du einer von denen. Du spürst die Macht, die du mit der Waffe hast, fühlst dich stark, unverletzlich. Du kannst über das Leben von anderen entscheiden." An der Front war die Waffe zugleich Michaels Überlebensgarantie: "Du kämpfst jeden Tag ums Überleben. Aber das Schlimmste ist gar nicht der Gedanke an den Tod, sondern die Angst vor schweren Verletzungen, davor, dass du hilflos irgendwo liegst und unerträgliche Schmerzen leiden musst."

Mit 21 gelang es ihm, nach Europa zu fliehen. "Unser Land war eine einzige Ruine, von der Hauptstadt Freetown bis zum letzten Dorf. Ich hab jeden Tag nur Hass, Leid, Tod und schreckliche Verletzungen gesehen, von uns selbst mit verursacht", sagt Davies. "Man hat es geschafft, am Leben zu bleiben. Aber da war keine Zukunft."

Seit zwölf Jahren lebt er in Bremen. Dort hat er Schulabschlüsse nachgeholt, eine Ausbildung als Speditionskaufmann absolviert. Erst spät hat er angefangen, von seiner Zeit als Kindersoldat zu erzählen. Freunde schickten ihn zu Refugio Bremen, einem von bundesweit etwa 25 psychosozialen Behandlungszentren für Flüchtlinge. Seiner Therapeutin ist er dankbar, dass sie ihm über die Musik einen Weg gezeigt hat, seine Erlebnisse zu verarbeiten.

Hilfe für ehemalige Kindersoldaten ist eher zufällig

Experten halten Therapien für ehemalige Kindersoldaten für unabdingbar. Vor allem die, die selbst mit der Waffe in der Hand kämpfen und Menschen töten mussten, seien schwerst traumatisiert, sagt Elise Bittenbinder, Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren: "Sie haben früh gelernt, Verantwortung zu übernehmen und Macht auszuüben." Sie wirkten für ihr Alter oft sehr reif, seien emotional aber unterentwickelt und sehr gewaltbereit.

Auch Michael Davies gibt zu, dass er in Deutschland anfangs Schwierigkeiten hatte, seine Aggressionen zu kontrollieren: "Ich hab gedacht, wenn einer mich angemacht hat, den bring ich einfach um."

Die Soziologin Dima Zito hat für eine Studie im Auftrag des Kinderhilfswerks terre des hommes Interviews mit 15 ehemaligen Kindersoldaten geführt. Alle, ob Kämpfer, Spion oder sexuell Ausgebeutete, zeigten Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen. Sie berichteten von Alpträumen, Erinnerungslücken, Zittern, Ängsten, Suizidgedanken.

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Zito und die Hilfsorganisationen bemängeln, dass es in Deutschland nach wie vor eher dem Zufall überlassen sei, ob diese Flüchtlinge entsprechende Hilfe erhielten. Jedes Jahr kämen bis zu 200 ehemalige Kindersoldaten nach Deutschland. Sie bräuchten eine Zukunft: einen sicheren Aufenthalt, Zugang zu Schulbildung, Ausbildung und Therapien.

Michael Davies ist heute angekommen in Deutschland, arbeitet, macht Musik, hat viele Freunde, unterstützt seine Mutter, die er nach dem Krieg wiedergefunden und nach Nigeria gebracht hat. Im Bremer Überseemuseum leitet er Projekte mit Kindern, zum Beispiel zum Thema Wasser. Dann erzählt er ihnen vom Leben in Afrika, vom manchmal schwierigen Alltag dort. Vom Krieg, in den er einst geraten ist, erzählt er ihnen nicht. "Ich will ihnen mitgeben, dass sie an sich glauben und lernen sollen und dass sie niemals aufgeben."