Foto: epd/Rolf Zöllner
Urnengrab von Chris Gueffroy auf dem Friedhof Baumschulenweg in Berlin-Treptow-Köpenick.
Karin Gueffroy: "Befangen, aber nicht verbittert"
25 Jahre nach dem Tod ihres Sohnes Chris an der Berliner Mauer spürt seine Mutter Karin Gueffroy keine Verbitterung mehr. Der 20-jährige Chris Gueffroy war der letzte an der Berliner innerstädtischen Grenze erschossene DDR-Flüchtling vor dem Mauerfall. Er starb in der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 auf dem Todesstreifen zwischen Treptow und Neukölln.
05.02.2014
epd
Karl-Heinz Baum und Markus Geiler

"Ich bin immer befangen, aber ich bin nicht verbittert", sagte Karin Gueffroy in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). "Dafür bin ich sehr dankbar. Ich will nicht vergiftet sein. Das hätte Chris nicht gewollt. Natürlich geht es mir heute besser als vor 25 Jahren. Dennoch geht es einer Mutter nie gut, wenn so etwas passiert ist." Von den vier beteiligten DDR-Grenzsoldaten wurden 1992 zwei vom Landgericht Berlin in einem Mauerschützenprozess freigesprochen, einer bekam eine Bewährungsstrafe, einer wurde verurteilt. Diese Urteile wurden 1994 vom Bundesgerichtshof abgemildert. Keiner von ihnen und auch keiner ihrer Vorgesetzten habe sich jemals für die Ermordung ihres Sohnes bei ihr entschuldigt, so Karin Gueffroy.

Frau Gueffroy, Sie sind die Mutter des letzten an der Mauer durch Berlin erschossenen Flüchtlings. Ihr Sohn war 20 Jahre alt. Haben Sie Rachegefühle, Hassgefühle?

Gueffroy: Natürlich geht es mir heute besser als vor 25 Jahren. Dennoch geht es einer Mutter nie gut, wenn so etwas passiert ist. Ich bin immer befangen, aber ich bin nicht verbittert. Dafür bin ich sehr dankbar. Ich will nicht vergiftet sein. Das hätte Chris nicht gewollt.

"Manchmal nannte ich ihn Zigeuner, weil er immer gern herumfuhr und immer neue Leute kennenlernte"

Was war Chris für ein Mensch?

Gueffroy: Er war neugierig, hatte diese lebensbejahende Ausstrahlung, war immer ein fröhlicher Mensch. Manchmal nannte ich ihn Zigeuner, weil er immer gern herumfuhr und immer neue Leute kennenlernte. Er war Sportler, Turner, träumte davon, Weltmeister zu werden. Er war auch politisch interessiert. Gern sah er sich im Westfernsehen den "Weltspiegel" oder die Serie von Dieter Kronzucker "Einmal nach Amerika" an. Da dachte ich bereits, der Junge wird in der DDR mal Probleme bekommen. Er sagte: "Da würde ich gern mal hin, dieses Land angucken!" Ich sagte: "Das wird nicht gehen." Aber er beharrte: "Wenn ich erwachsen bin, geht das!" Das hätte ja auch geklappt, wenn er noch gewartet hätte. Mit Gorbatschow wuchs zwar die Hoffnung auf einen Wandel, aber die DDR machte nicht mit. Kurz vor seiner Flucht hatte Honecker gesagt, die Mauer werde noch 100 Jahre stehen.

Chris war Kellner von Beruf. Warum ist er das geworden?

Gueffroy: Wer die DDR kennt, weiß warum. Freie Berufswahl war in der DDR natürlich schwierig. Irgendwann wollte er Pilot werden, das ging aber nur über die Armee. Die Uniform wollte er nicht anziehen. Notgedrungen entschied er sich für eine Ausbildung zum Kellner. Ich muss es nicht immer bleiben, meinte er. Kellner war in der DDR eine Nische. Kellner trafen Leute aus aller Welt, verdienten viel Geld, auch Westgeld, wurden nicht so stark wie andere kontrolliert. Nicht wenige junge Leute wurden aus politischen Gründen Kellner, selbst Akademiker. Alle seine Freunde, meist auch aus der Gastronomie, haben später studiert. Keiner ist gescheitert. Keiner liegt in einer Hängematte!

Karin Gueffroy

Sie meiden die Medien...?

Gueffroy: Durchaus. Ich wurde 1990 richtig überrollt. Seitdem melde ich mich nur noch von Zeit zu Zeit zu Wort. Ich habe Angst, dass ich das zerrede, will mich nicht wiederholen. Ich rede gern mit Schülern - an Hauptschulen, Mittelschulen, Gymnasien. Ein schwedischer Lehrer kommt jedes Jahr mit seiner Abiturklasse nach Berlin. Die Schweden können sich gar nicht vorstellen, dass man aus der DDR nicht rauskam. Einer sagte: "Da wäre ich auch geflüchtet." Eine Jugendvollzugsanstalt lud mich ein. Es waren ganz junge Leute, viele aus dem Westen. Ihre Betreuer haben angefragt, ob ich hinkomme. Ich bin froh, dass ich es gemacht habe. Wir saßen im Kreis und ich fragte mich: Denken die jetzt, was will die Alte hier? Aber überhaupt nicht. Sie stellten viele Fragen. Ich freue mich, dass ich junge Leute motivieren kann. Chris war ja nicht viel älter als sie. Da können sie sich leichter mit ihm identifizieren.

Wie kam es zu seiner Flucht?

Gueffroy: Den Gedanken, in den Westen zu gehen, hatte er wohl schon länger. Eine Freundin von mir reiste in den Westen aus. Da sagte er: "Warum bleiben wir noch hier, wenn alle gehen?" Ich entgegnete ihm: "Wir kennen niemanden im Westen. Warum sollten wir gehen?" Er: "Mutti, das reicht nicht fürs Leben: Arbeit, ein kleines Auto, Geld auf der Bank - das ist zu wenig." Im Spätherbst 1988 hatte ein Freund, der zum Grenzdienst eingezogen war, den ersten Heimaturlaub. Der berichtete, dass die Offiziere gesagt haben, dass nicht mehr geschossen werden darf. Das schade der DDR. Chris wusste zudem von anderen DDR-Soldaten, dass bei Staatsbesuchen der Schießbefehl ausgesetzt wird. Dann kam im Januar der Einberufungsbefehl. Das war wohl zu viel für ihn.

"Chris und sein Freund Christian Gaudian haben sich leider um einen Tag vertan"

Anfang Februar wurde Schwedens Ministerpräsident in der DDR erwartet. Aber Chris und sein Freund Christian Gaudian haben sich leider um einen Tag vertan. Mich hatte er in diesen Tagen in den Urlaub geschickt an die Ostsee. Christian berichtete mir später, Chris habe am 5. Februar gesagt, wir müssen es heute machen. Meine Mutter kommt aus dem Urlaub zurück. Dann geht es nicht mehr. Also ging das ziemlich Hals über Kopf. Sie verabredeten zuvor, niemanden anzugreifen. Werden sie entdeckt, wollten sie nichts machen. Dann passiere nicht viel. Sie wollten ihre Strafe absitzen und dann freigekauft werden. Sie haben auch wirklich nichts gemacht. Aber es gibt immer Leute, die ihren Kopf nicht einschalten, aber eine Waffe haben und einfach losschießen.

Hat sich einer der Schützen oder einer ihrer Vorgesetzten bei Ihnen entschuldigt?

Gueffroy: Ja, Günter Schabowski aus der DDR-Spitze hat sich entschuldigt, aber hinzugefügt: "Ich weiß, dass Sie das nicht annehmen." Ich habe es auch nicht angenommen. Im Politbüro wussten alle vom Schießbefehl und nickten ihn ab. Nein, sonst ist kein Mensch auf mich zugekommen, auch nicht vor dem Prozess. Im Prozess konnten die Schützen mich, die Nebenklägerin, die ihnen gegenüber saß, nicht ansehen. Die Mutter eines der Mauerschützen kam mal auf mich zu, ihren Sohn an der Hand und sagte: "Frau Gueffroy, seien Sie doch nicht so hart. Mein Sohn muss weiterleben." Da musste ich mich wirklich sehr beherrschen. Er hatte meinem Sohn nur die Chance gegeben, 20 Jahre alt zu werden.

Ihr Sohn hatte bei den Grenztruppen das Schießen erst verweigert, wurde zum Küchendienst verdonnert und wurde von seinen Mitkameraden als "Küchenschabe" gehänselt. Deshalb wollte er nach sechs Wochen dann doch schießen. Als Chris und Christian dann flohen, hatte jener die Waffe auf Dauerfeuer gestellt. Ein anderer hat genau auf das Herz gezielt, er hätte in die Beine schießen können. Jeder Soldat konnte schon bei der Musterung sagen: "Ich kann nicht schießen!" Oder: "Ich gehe nicht an die Grenze." Sie haben Chris' Tod billigend in Kauf genommen! Die Täter leben fröhlich weiter - ohne Unrechtsbewusstsein.

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Die vier Mauerschützen kamen letztendlich alle mit Bewährungsstrafen davon. Waren Sie mit den Urteilen zufrieden?

Gueffroy: Ich will mich über das Urteil nicht beklagen. Ich hatte mir vorher vorgenommen: Egal, was rauskommt, sie müssen auf der Anklagebank sitzen und sich anhören, was sie getan haben. Auch beim späteren Politbüroprozess war ich Nebenklägerin und saß den Angeklagten gegenüber. Sie mussten mich ansehen. Die Strafen waren mir nicht so wichtig. Entscheidend ist: Für alle gab es einen Schuldspruch. Ich sagte mir: Sei damit zufrieden!

Wie erlebten sie die Wochen und Monate nach den Todesschüssen?

Gueffroy: Das ist das Verrückte, dass eine Mutter zu einer Form auflaufen kann, mit der die Stasi nicht rechnet. In jenen Tagen lebte ich von heute auf morgen, musste oft zur Stasi, wusste nicht, wie lange ich das schaffe. Sie riefen abends um 9 Uhr an, eine Stimme sagte: "Morgen um 9 bei uns!" Dann wurde der Hörer aufgelegt. Ich habe mich in ihren Augen anders verhalten, als sie es von mir wahrscheinlich erwartet haben. Ich konnte ungefähr sechs Wochen lang sagen, dass mein Sohn ermordet worden ist. Dann haben sie es mir verboten.

Dann wurde mir klipp und klar gesagt, mein Sohn sei ein Verbrecher gewesen. Und so ist er behandelt worden. Wenn man merkt, man ist irgendwie im Kopf gelähmt und man kann nicht mehr weiter, dann gibt es irgendwann so einen Knacks. Und den hat mir die Stasi gegeben. Gleich am Anfang, als ich noch dachte, Chris lebt und sitzt in einer Zelle nebenan, da hat einer zu mir gesagt: Beschreiben Sie doch mal ihren Sohn. Da habe ich geantwortet: "Es ist schwer, manchmal ist er wie ein kleines wildes Pferd. Er hat sich nicht richtig bändigen lassen!" Da haben sie genickt.

"Mir wurde klipp und klar gesagt, mein Sohn sei ein Verbrecher gewesen"

Nach sechs Wochen erklärten sie dann, "der Generalstaatsanwalt hat entschieden, dass ihr Sohn ein Verbrecher gewesen ist". Dann hat ein Stasi-Mann zu mir gesagt: "Sie meinten doch selbst, ihr Sohn war wie ein kleines wildes Pferd. Was macht man denn mit solchen Pferden, die sich nicht einfangen lassen?" Und dabei guckt er mich an. Da antwortete ich: "Man erschießt sie einfach!" Da nickte er, denn das Nicken hört man nicht auf Tonbändern. Da bin ich aufgestanden und habe gebrüllt: "Und eins sage ich Ihnen: Ich komme hier nie wieder her, entweder Sie behandeln mich, wie Sie meinen Sohn behandelt haben, oder Sie führen mich ab."

Als es Chris' Freunden vor der Beerdigung gelang, eine Todesanzeige unterzubringen, habe ich eine befreundete Rentnerin nach West-Berlin geschickt. Sie hatte Chris' Ausweisfoto und Name und Adresse in einer Streichholzschachtel und ist damit zum Sender Freies Berlin (SFB) gegangen. Als die Meldung dann in der Abendschau kam, war das meine kleine Rache. Jetzt wussten es alle und viele kannten seinen Namen. Damit hatte ich die Stasi-Strategie durchkreuzt. Später im Jahre 1989 durfte ich dann selbst aus der DDR ausreisen.