Mystik ist schwer zu beschreiben, aber interessiert viele Menschen.
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Mystik ist schwer zu beschreiben, aber interessiert viele Menschen.
Das Potenzial des Mystischen
Die Langen Nächte der Weltreligionen im Thalia-Theater sind ein Publikumsmagnet während der Hamburger Lessing-Tage. "Sehnsucht und Stachel der Mystik" lautete der aktuelle Titel der Theaternacht, die am Samstagabend für ein volles Haus sorgte. Was ist so aktuell am Thema Mystik, dass es so viele Zuschauer anzieht? Ein Interview mit Wolfram Weiße, der als Direktor der Akademie der Weltreligionen gemeinsam mit dem Thalia-Theater die Nacht für die rund 1.000 Gäste organisierte.

Professor Weiße, was kann Mystik in unserer rationalen Welt bedeuten?

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Wolfram Weiße: In der Mystik geht es um das unmittelbare Erleben, das nicht von Reflexion oder über Wissen geprägt ist. Mystische Erfahrungen schließen die Sehnsucht nach Liebe und Transzendenz mit ein. Mystik ist in allen Religionen der Welt beheimatet und kann ein Gegenpol sein zu materiellen Werten. In unserer Gesellschaft haben zudem viele Menschen keinen Zugang zu einer verfassten Religion, aber sie fragen nichtsdestotrotz nach dem Sinn des Lebens, nach Transzendenz, nach dem Tod und was dann kommt. Für diese Menschen kann Mystik eine Möglichkeit sein, sich diesen Fragen zu öffnen. Als wir das Thema Mystik bei der Langen Nacht der Weltreligionen im Thalia-Theater aufs Programm stellten, haben wir gemerkt, wie groß der Zuspruch ist. So schnell war das Haus noch nie ausverkauft.

Wo kann Mystik heutzutage erlebt und erfahren werden?

Weiße: Mystisches lässt sich zum Beispiel im Gottesdienst erleben und vor allem in der Kunst. Etwa in der Musik von Johann Sebastian Bach, die auf emotionale Weise anrührt. Aber auch eine leere Kirche kann tief berühren. Ich bin immer wieder fasziniert davon, wie viele Besucher täglich in die St. Petri Kirche kommen, die mitten in der Hamburger Innenstadt liegt. Diese Menschen sind eigentlich beim Einkaufen, doch sie machen während des Shoppens einen Schlenker in den sakralen Raum. Um dem Lärm zu entkommen und die Ruhe auf sich wirken zu lassen. Diese Leute werden natürlich nicht allein durch den Kirchenbesuch zu Mystikern. Doch es zeigt mir, dass das Fassbare die Menschen nicht zufrieden stellt. Dass viele ansprechbar sind für Dinge, die nichts mit Materiellem zu tun haben. Denn ein Punkt von Mystik ist, dass man in sich geht. 

"Mystik ist eine Theologie der Liebe, die auf Praxis drängt"

Bieten der Buddhismus mit seinen meditativen Praktiken einen leichteren Zugang zur inneren Ruhe und Transzendenz als das Christentum?

Weiße: Ich halte nichts davon, ein Ranking der Religionen aufzustellen. Zum Beispiel gibt es zum Thema Achtsamkeit, das in buddhistischen Meditationen eine große Rolle spielt, viele Anklänge im Christentum.Wir wissen von Befragungen durch die Akademie der Weltreligionen, dass viele Menschen der institutionalisierten Religion skeptisch gegenüber stehen. Sie befürchten das Genormte, das Moralische und auch die Kirchensteuern. Vielleicht weckt der Buddhismus bei manchen eine Neugier, weil er eine ungewohnte Form von Spiritualität anbietet. Wer zur stillen Meditation in ein buddhistisches Zentrum geht, hat nicht gleicht das Gefühl, ein ganzes Rundum-Paket der Religion buchen zu müssen. Wir haben allerdings auch festgestellt, dass einige über solche Angebote sensibilisiert werden dafür, dass es Unerklärliches und Geheimnisvolles in unserer Welt gibt. Das kann eine Brücke sein, sich dem Christentum mit neuer Sichtweise zuzuwenden. Ich bin überzeugt, dass nicht eine Religion der anderen überlegen ist. Gerade die Grundfragen des Transzendenten spielen in allen Religionen eine Rolle. 

Sie betonen, dass die Mystik der Schlüssel für den interreligiösen Dialog sein kann.

Weiße: Mystik ist eine Theologie der Liebe, die auf Praxis drängt. Diese Praxis schließt unbedingt die Annahme des Nächsten ein. So hat die Mystik das Potenzial, über die Unterschiedlichkeit der Religionen hinauszugehen. Man erlebt, dass andere Menschen ähnliches erleben und fühlen. Es hat etwas Verbindendes, Gotteserfahrungen in gleicher Intensität zu machen. Viele Mystiker versuchen in Gruppen in einen anderen Seinszustand zu kommen, etwa die Derwisch-Tänzer im Sufismus. Die Sehnsucht der Menschen nach Liebe kommt in vielen religiösen Texten vor, im Hohen Lied der Liebe, wie es die Christen nennen, im Lied der Liebe, wie es in jüdischer Tradition heißt ebenso wie in den Gedichten des islamischen Gelehrten Dschelaladdin Rumi.

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Bedeutet mystische Sinnsuche nicht eine Abkehr von der Gesellschaft?

Weiße: Die Theologin Dorothee Sölle hat gesagt, die Mystik, das Tiefinnere, ist die Basis, um öffentlich zu wirken. Das sehe ich auch so. Wer mystische Erfahrungen macht, hält inne und verortet sich als gemeinsam Suchender mit anderen. Dabei ist es egal, ob diese Erfahrungen im Judentum, Hinduismus, Islam oder im Christentum gemacht werden. Religiöse Mystik ist nicht bloße Gefühlsduselei oder ein Wellnessangebot, sondern sie stellt in allen Religionen eine Erfahrungsmöglichkeit dar, durch die Menschen zu einer Offenheit für Göttliches und damit für die Gerechtigkeit Gottes gelangen. Diese Perspektive schließt Nächstenliebe und solidarisches Handeln mit ein.