Kirchenmusiker Michael Kuhlmann steht mit leicht ausgebreiteten Armen da. Der von Geburt an blinde 41-Jährige leitet seit vielen Jahren einen Chor. Er will seine Gesten verfeinern, damit die sehenden Sängerinnen und Sänger seines Ensembles noch besser verstehen, was er ihnen anzeigt. Bei einem Seminar in Hannover beobachtet Dozent Matthias Hanke ihn und korrigiert: "Weite die Arme so, als würdest du einen großen Gymnastikball umfassen, nicht nur einen kleinen." Andere Dirigenten üben vor dem Spiegel. "Ich brauche jemanden, der mir den Spiegel ersetzt", sagt Kuhlmann.
###mehr-artikel###
Kuhlmann ist Kantor am hannoverschen Stephansstift und hat für den Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf die Fortbildung organisiert. Die Selbsthilfevereinigung mit Sitz in Marburg an der Lahn vertritt Blinde in akademischen Berufen. Die meisten blinden Kirchenmusiker oder Musiklehrer unterrichteten sehende Schüler, sagt Kuhlmann, der auch Vorstand der Fachgruppe Musik des Vereins ist. Das Studium an den Musikhochschulen sei selten auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet. "Wenn man Glück hat, führt einem der Lehrer die Bewegungen beim Dirigieren. Als Geburtsblinder hat man keine Vorstellung davon, wie eine Geste wirkt."
Computer schreiben Noten in Punktschrift
Der württembergische Kirchenmusikdirektor Matthias Hanke übt deshalb mit den elf Teilnehmerinnen und Teilnehmern die gegenseitige Wahrnehmung. Er hat früher an einer Berufsfachschule für Sehbehinderte unterrichtet und weiß, wie er deren Vorstellungskraft anspricht: "Öffne die Hand, als würdest du Sand durch die Finger rieseln lassen", leitet er Matthias Gampe an. Der 36-jährige aus Bad Neuenahr neigt nach seiner Selbsteinschätzung dazu, "zu viel zu machen". Doch sein sehender Lehrer Hanke ermuntert ihn zu noch ausladenderen Bewegungen. "Ich hab direkt hinter dir gestanden. Aber ich habe nichts gespürt."
###mehr-links###
Schon bei den Noten brauchen Blinde und Sehende unterschiedliche Vorlagen. Seit der Erfindung der Blindenschrift durch Louis Braille (1809-1852) hat sich hier allerdings viel getan. Computerprogramme übertragen Noten in Punktschrift und sagen bei Bedarf den Takt an. "Auch der andere Weg ist möglich", erläutert Michael Kuhlmann. "Ein Musiker gibt Noten in Braille-Schrift ein und kann sie in normale Notenprogramme umwandeln."
Musik braucht keinen Übersetzer
Als Kuhlmann vor kurzem sein neues Chorprogramm vorbereitete, hörte er sich auf Youtube Aufnahmen an. Er hat Noten eingescannt und noch einmal Korrektur lesen lassen. "Die Deutsche Zentralbücherei für Blinde in Leipzig überträgt auf Anfrage Noten in Braille-Schrift", erläutert er. So könnten die Musiker auf aktuelle musikwissenschaftliche Entwicklungen reagieren, anstatt nur auf bereits vorhandene Literatur zurückzugreifen.
Der Klavierpädagoge Martin Rembeck zeigt einen Bogen, auf dem Noten in normaler Druckschrift so groß und so erhaben abgedruckt sind, dass sie auch mit dem Tastsinn erfasst werden können. Der Dozent an der Musikschule Soest bringt als Blinder sehenden Schülern das Klavierspielen bei. Er hat darüber hinaus eine Klavierschule verfasst, nach der auch sehende Lehrer blinde Schüler unterrichten können. Die Musik selbst braucht keine Dolmetscher, ist er überzeugt: "Musikalische Gesten werden weltweit verstanden und müssen nicht übersetzt werden."