Der Fall Harry Wörz war ein Justizskandal, wie man ihn bis dahin nur aus Krimis kannte: Ein völlig unbescholtener Mann wurde 1997 von der Polizei mit Hilfe einiger nicht mal sonderlich raffinierter Manipulationen als Täter aufgebaut und prompt verurteilt. 13 Jahre lang kämpfte Wörz mit Hilfe seiner Anwälte um Gerechtigkeit. Als im Dezember 2010 endlich der endgültige Freispruch erfolgte, war er ein gebrochener Mann. Polizei und Justiz haben sein Leben zerstört; auf eine angemessene Wiedergutmachung wartet er bis heute.
Selbst wenn es makaber klingt: Der Stoff ist wie geschaffen für ein TV-Drama. Mut beweist der SWR im Grunde allein mit der Tatsache, dass die Figuren ihrem Dialekt treu bleiben dürfen; das Badische, wie man es im Raum Pforzheim spricht, ist etwas gewöhnungsbedürftig. Auch sonst hält sich die Verfilmung des Justizdramas an die Fakten. Das Drehbuch hat einige Ereignisse verdichtet, und in die Rolle des Anwalts Hubert Gorka sind noch andere Figuren eingeflossen, doch die skandalösen Ereignisse haben sich exakt so zugetragen, wie der Film sie wiedergibt.
Unfassbare Ermittlungs- und Verfahrensfehler
Der Fall ist stellenweise so grotesk, dass ein fiktionales Drehbuch vermutlich als völlig unglaubwürdig abgelehnt worden wäre: In den frühen Morgenstunden des 29. April 1997 wird Harry Wörz verhaftet. Er wird beschuldigt, seine Frau, von der er getrennt lebt, durch Strangulierung mit einem Schal lebensgefährlich verletzt zu haben. Im Januar 1998 wird er nach nur vier Prozesstagen wegen versuchten Totschlags zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Als die Eltern des Opfers eine Zivilklage folgen lassen, weil sie Schmerzensgeld fordern, wird Wörz’ neuer Anwalt Gorka auf unfassbare Ermittlungs- und Verfahrensfehler aufmerksam. Offenbar hat die Pforzheimer Polizei nicht nur sämtliche Spuren ignoriert, die in die eigenen Reihen führten, sondern sogar Indizien verschwinden lassen, die Wörz entlasten könnten.
Regisseur Till Endemann, der das Drehbuch gemeinsam mit Holger Joos schrieb, hat für den SWR vor fünf Jahren mit viel Feingefühl die Flugzeugkatastrophe über Überlingen verfilmt ("Flug in die Nacht - Das Unglück von Überlingen"). Da sich "Unter Anklage" noch stärker auf die Figuren konzentriert, steht und fällt der Film naturgemäß mit der Auswahl der Schauspieler. Beide Hauptdarsteller machen ihre Sache hervorragend. Felix Klare, als Stuttgarter "Tatort"-Kommissar bekannt, liefert als Anwalt Gorka eine der Rolle entsprechende reduzierte, aber ungemein reife Leistung ab. Noch mehr Respekt gebührt Rüdiger Klink, der bis zur Unkenntlichkeit hinter Harry Wörz verschwindet. Ihm wie auch dem Drehbuch ist zu verdanken, dass mit der Titelfigur eine eindrucksvolle Gratwanderung gelingt: Wörz erscheint als einfacher, nicht jedoch als einfältiger Mensch, der angesichts des himmelschreienden Unrechts die Welt nicht mehr versteht. Dass Klink aus der gleichen Gegend stammt, trägt natürlich enorm zur Authentizität bei. Patrick von Blume repräsentiert gewissermaßen die Gegenseite: Er spielt einen der Polizisten, die die Ermittlungen gezielt in Richtung Wörz gelenkt haben. Im Unterschied zu den "Guten" fällt diese Figur zwar alles andere als differenziert aus, aber im Grunde will man das auch gar nicht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dass Endemann ein ausgezeichneter Regisseur ist, beweist "Unter Anklage" gleich zu Beginn: Drei kühne Minuten braucht der Film von der Verhaftung bis zur Verurteilung (Schnitt: Florian Drechsler); selten ist der Begriff "kurzer Prozess" derart schonungslos umgesetzt worden. Und obwohl man weiß, wie’s ausgeht, wirkt Wörz’ Freispruch wie eine Erlösung; selbst wenn das Hochgefühl durch den bitteren Epilog nicht von langer Dauer ist.