In den vergangenen Tagen war der Poetry Slam-Clip von Julia Engelmann das Thema in sozialen Netzwerken: Derzeit klicken täglich etwa 500.000 Nutzer den Clip an. Engelmann wendet sich darin gegen allgegenwärtige Lethargie und ruft auf, mutig das eigene Leben in die Hand zu nehmen. "Das Leben, das wir führen wollen, das können wir selber wählen, also lass uns doch Geschichten schreiben, die wir später gern erzählen."
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Die politische Satireshow "SRSLY" bricht in einem zehnsekündigen YouTube-Clip den Text von Engelmann auf dessen Kernbotschaft herunter: "YOLO!" knallt es einem da entgegen. ("You only live once" - "Du lebst nur einmal").
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Wirklich neu ist der Appell von der Poetry Slammerin also nicht. Wir alle werden ab und an gerne daran erinnert, dass das Leben kurz ist und gelebt werden will. Die Jüngeren von uns, weil ihnen damit gesagt wird: Ihr könnt es schaffen, wenn ihr nur wollt! Und die Älteren, weil Engelmann suggeriert: Hey, es ist nie zu spät!
Ist das Mut?
Julia Engelmann zeigt uns wie das geht: Sie überwindet ihre eigene Nervosität, stellt sich vor ein Publikum und slammt einen Text über Mut. Doch hier stellt sich die Frage: Ist ihre Nervosität echt? Oder gehört sie zur Performance? Denn darum geht es bei Poetry Slams: Den Auftritt. Und wenn dieser mit der Message übereinstimmt, umso besser.
Wenn uns eine junge, nervöse Studentin zeigt, dass sie all ihren Mut zusammen nimmt, um für ihr Glück und ihre Vorstellung vom Leben einzustehen, dann glauben wir ihr, dass wir das auch können. Allerdings ist Julia Engelmann nicht nur Studentin, sondern auch Schauspielerin. Neben ihrer Rolle als Franziska Steinkamp in der RTL-Serie "Alles was zählt", kann sie auf fünf Jahre Theatererfahrung zurückgreifen. Wenn sie ihre Schauspielkenntnisse für ihre Poetry Slam-Karriere nutzt, ist das legitim. Dass ihr Auftritt unter diesem Gesichtspunkt jedoch gar nicht hinterfragt wird, ist seltsam. Aber schließlich verkauft sich die Story von der nervösen Studentin auch besser.
Wir müssen nur zupacken!
Ihr Auftritt auf dem 5. Bielefelder Hörsaalslam funktioniert jedenfalls. Da fallen auch die vielen ungeschliffenen und schlichten Reime nicht weiter ins Gewicht ("Ich würde gerne vieles sagen, aber bleibe meistens still, weil wenn ich das alles sagen würde, wär’ das viel zu viel"). Es sei denn, die naive Wortwahl ist abermals ein Stilmittel.
Engelmann rückt unsere eigene, bessere Zukunft in Greifnähe - wir müssen nur unseren inneren Schweinhund überwinden und zupacken. Durch dieses Versprechen erklärt sich vielleicht auch ein Teil des Hypes, im Zuge dessen stern-Redakteure behaupten "dieses Video könnte Ihr Leben verändern" und Facebook-User der "schüchternen Studentin" Heiratsanträge machen.
An den enthusiastischen Massenreaktionen verzweifeln wiederum andere: "Was ist das überhaupt für eine Generation, die erst durch einen mittelmäßigen Text aus Bielefeld eingesehen hat, dass das Leben viel zu kurz ist?" fragt sich Texterin und Autorin Laura Nunziante in ihrem Blogpost. Dabei kritisiert Nunziante weniger die "holperige Lyrik" an sich, sondern vielmehr, dass diese "von einem Medienaufgebot zum Altar des lyrischen Kniefalls getragen wird".
"Selbstoptimierung und Leistungsquatsch"
Der Blog "Die Mädchenmannschaft" stört sich vor allem an dem Aufruf zur "Selbstoptimierung" und dem ganzen "Leistungsquatsch". In ihrem Remix kontern die Bloggerinnen mit ihrer eigenen Vorstellung, das Leben zu leben: "Eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein, und wir könnten dann an all die Geschichten denken die wir hätten erzählen können, doch stattdessen lachen wir: 'Hätte-hätte-Fahrradkette!', und wir prosten uns zu mit Schnaps."
Multimediaredakteur Jost Langheinrich vom SWR schließt sich dem an: "Mach doch, aber lass mich in Ruhe! Ist ein Leben weniger erfüllt, wenn man es nicht bis zum Anschlag lebt?" schreibt er.
Moderator Jan Böhmermann schließlich befindet in seiner parodistischen Antwort, dass uns der Clip selbst davon abhält, so zu leben wie wir leben wollen: "Eines Tages, Baby, werden wir alt sein Baby, und an die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können, wenn wir nicht andauernd volkstümliche Rührbröckchen bei YouTube geguckt hätten."
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Wir alle kennen diese Momente, in denen uns wieder einmal klar wird: Stimmt, genau so sollten wir unser Leben in die Hand nehmen. Solche Momente können wichtig sein. Die große Kunst ist und bleibt es aber, den Enthusiasmus, der mit solchen Erkenntnismomenten einhergeht, in beständiges Handeln umzusetzen. Um das eigene Leben zu ändern, um bewusst zu leben, braucht es vor allen Dingen Reflexion und Durchhaltevermögen: den Willen also, sich immer wieder aufs Neue mit sich und seiner Umwelt auseinander zu setzen. Im Alltag ist das eher unglamourös, nervig und ganz schön anstrengend.
Konkrete Lösungsansätze, um eingeschliffene Denk- und Handlungsmuster zu durchbrechen und bewusster zu leben, bietet Engelmann in ihrem Text nicht. "Lass uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehn wie sie zu Boden reisen" und "lass mal an uns selber glauben" helfen einem nicht wirklich weiter. Und so läuft der Slam von Julia Engelmann Gefahr, nur ein weiteres Wohlfühlstück zu sein, das uns streichelt und mit dem wir unser schlechtes Gewissen beruhigen, das aber langfristig nicht unter die Haut geht.