Gottes Nähe kann Geborgenheit bringen ...
Gottes Nähe hält alles Übel fern. Wenn gottfeindliche Mächte einen Keil zwischen Gott und die Seinen treiben wollen, tritt Gott selbst dazwischen. Wie Erich Zenger deutlich gemacht hat, ist dies durchaus kein kuscheliger "lieber" Gott. Geborgenheit in der Nähe Gottes setzt die Macht Gottes voraus, die diesen Schutzraum mit allen Mitteln, notfalls mit Gewalt, erzwingt. Gottes Nähe ist nur für die ein Glück, die von seiner Macht geschützt sind.
Gottes Nähe wird im Alten Testament dann als Glück und Geborgenheit erfahren, wenn sie sich gegen Gegner wendet. Das Alte Testament kennt indes auch eine Nähe Gottes, die Unglück verursacht, selbst wenn sie keine gottfeindliche Macht abwehrt. Schon Erzvater Jakob erfährt das: Wer Gott (zu) nahe kommt, bekommt vielleicht den Segen, bleibt aber fürs Leben gezeichnet (Gen 32,23-33). Der Prophet Jeremia leidet nicht nur darunter, dass niemand ihn hören will, sondern auch unter der überwältigenden Nähe Gottes (Jer 20).
Am weitesten geht das Hiobbuch. Sprechend ist Hiobs Klage (Hi 7,17-21):
(17): Was ist der Mensch, dass du ihn groß achtest und dass du ihn beachtest? (18) Dass du ihn heimsuchst jeden Morgen und ihn jeden Augenblick prüfst? (19) Wirst du von mir wegblicken, mich lassen, bis ich meinen Speichel schlucke? (20) Habe ich gesündigt, was tut es dir, Menschenhüter? Warum hast du mich dir zur Zielscheibe gemacht, und (warum) bin ich dir zur Last geworden? (21) Warum vergibst du mir nicht meinen Aufstand und lässt hingehen mein Vergehen? Denn jetzt: In den Staub werde ich mich legen, und wenn du mich suchst, bin ich nicht mehr. (Übersetzung: M. Köhlmoos)
... oder zur Verzweiflung treiben
Hiob stellt die Psalm-Erfahrung auf den Kopf: Beginnend mit dem Zitat von Ps 8,5 in Hi 7,17 wird Gottes Nähe gnadenlos: Gott prüft und überwacht den schwachen Menschen, statt seiner liebevoll zu gedenken. Statt Hiob an die Hand zu nehmen, wie in Ps 73, greift Gott Hiob an, seine Hand wird zur Waffe (stärker noch in Hi 16,12-14). Hiobs Verzweiflung resultiert also nicht aus der Ferne Gottes, sondern aus seiner Nähe! In seinen Klagen und Anklagen dreht Hiob pausenlos Psalmensprache um und wendet sie in ihr Gegenteil. Hiobs Freunde erweisen sich nicht nur dadurch als nicht hilfreich, dass sie bei Hiob Sünde vermuten, sondern dass sie ihm konstant empfehlen, er möge zu Gott beten, um dessen Nähe zurück zu erhalten: Sie vermuten Gottes Ferne als Grund des Leidens ihres Freundes (Besonders in Hi 4-5; 8; 11).
###mehr-artikel###Nur die Leserinnen und Leser des Hiobbuches kennen die ganze Wahrheit. Hiobs Leiden entstammt einem Experiment – umgangssprachlich einer Wette – zwischen Gott und dem Satan: Was wird passieren, wenn ein zweifellos Rechtschaffener mit allem Unglück belegt wird, das es gibt? Wird er an Gott festhalten oder nicht? (Hi 1-2). Zwar ist es der Satan, der Hiobs Herden und Familie tötet und ihn krank macht, aber er tut es mit Gottes ausdrücklicher Erlaubnis. Ist es auch der Satan, der Hiob bedrängt? Weder Hiob noch seine Freunde kommen auf diesen Gedanken. Weil Gott und der Satan zusammenarbeiten, scheinen die beiden sowieso ununterscheidbar, weiß der Leser – das macht es nicht besser.
Das "düstere Duell" (Edward Noort) zwischen Hiob und Gott endet unentschieden: Zwar bekommt Hiob das Privileg einer Begegnung "von Angesicht zu Angesicht" und der Wiederherstellung seiner Lebensumstände (Hi 38-42), aber das Glück der Gottesnähe à la Ps 73 erhält er nicht wieder. Das ist nach der Vorgeschichte wohl auch nicht möglich, und auch Hiob erkennt, dass er von Gott nur noch Recht erwarten kann, aber nicht mehr Geborgenheit (vgl. Hi 29-31).
Ein Gedankenexperiment:
Was wäre, wenn Gott sich nicht an die Regeln hielte?
Die textliche Verbindung zwischen dem Hiobbuch und den Psalmen ist unübersehbar: beide sprechen dieselbe Sprache, kommen aber zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Wie verhalten sich die beiden Bücher theologisch zueinander? Setzt eines das andere außer Kraft?
Das Hiobbuch ist seiner Zielsetzung nach ein "Gedankenexperiment". Dabei wird eine bestimmte Situation imaginiert, die real nicht hergestellt werden kann. Danach werden die Folgerungen durchbuchstabiert, die sich daraus ergeben. Das Resultat ist die Bestätigung, Widerlegung oder Fortführung einer Theorie. Das Gedankenexperiment ist eine vielfach verwendete Methode sowohl in der Philosophie als auch in den Naturwissenschaften. Dass es auch zu den theologischen Werkzeugen gehört, wird derzeit intensiv diskutiert (Vgl. Y. Fehige, Gedankenexperimente in der Offenbarungstheologie. Eine erste Annäherung: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011), 109-129).
Das Hiobbuch ist aber selbst als Text das Experiment: Die Ereignisse im Himmel bilden die nicht herstellbare Situation. Zwar ergibt sich die Spannung der Hioberzählung aus der Frage, ob Hiob an Gott festhält oder nicht, das Hiobproblem aber ist ein anderes: Wie müssten wir uns Gottes Handeln vorstellen, wenn er sich nicht an die Regeln hielte? Wenn Gott seine Macht willkürlich einsetzte anstatt zur Ordnung der Welt – wie in den Psalmen – dann bliebe am Ende ein Gott übrig, dem man sich nur unterwerfen kann, und der seine Gnade genauso unberechenbar gewährt wie seine Gewalt (Hi 42). Das Hiobbuch fragt also angesichts eines allmächtigen Gottes nach dem Verhältnis zwischen Allmacht und Willkür in Gott. Es bringt auf den Punkt, was in Jakobs Kampf in Gen 32 in ein Bild gekleidet wird: Wem Gott unerklärlich zu nahe kommt, der bleibt fürs Leben gezeichnet.
Hat nur einer recht?
Das Hiobbuch ist spät verfasst worden; es datiert frühestens aus dem 4. Jh. v.Chr. und ist damit wesentlich jünger als die grundlegende Theologie der Psalmen. Dass in der Anordnung der biblischen Bücher der jüngere Hiob vor die älteren Psalmen gerückt wird, ist eine weitere Konsequenz des Hiob-Experiments. Es ist – sagt der Psalter – eben nicht so, dass Gott unberechenbar ist. Psalmgebete sprechen aus Erfahrung und aus Hoffnung und halten an dem Gott fest, bei dem man geborgen sein kann. So stellt der Psalter dem "Was wäre, wenn" des Hiobbuches das "Amen, so ist es" entgegen. Das eine hebt das andere damit nicht grundsätzlich auf; vielmehr treten die beiden in einen Dialog: Das Experiment mit der Erfahrung, die Erfahrung mit dem Experiment.