Wie war das vor 25 Jahren - als lesbische Frau in kirchlichem Umfeld? Sich zu outen, erschien vielen undenkbar. Therese Hilgers (61) aus Wiernsheim zum Beispiel lebte 20 Jahre lang verdeckt in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung. 1969, als sie sich verliebte, gab es in ihrer Umgebung in Württemberg keine Frauen, die offen lesbisch lebten. Ähnlich ging es Hanne Hermann (65) aus Bietigheim-Bissingen: Sie war verheiratet und hatte Kinder. Ein typischer lesbischer Lebenslauf – bis heute. Die Frauen gehen zunächst den "normalen" Weg und gründen eine Familie, entdecken dann (nach und nach oder insgeheim schon lange) ihre Liebe zum gleichen Geschlecht, brauchen aber einen Auslöser, um sich offen dazu zu bekennen und Konsequenzen zu ziehen.
Der Auslöser war für viele ein Buch. 1987 veröffentlichten Herta Leistner, Monika Barz und Ute Wild "Hättest du gedacht, dass wir so viele sind – Lesbische Frauen in der Kirche". Das war der Durchbruch. Für die Leserinnen, die nun wussten: Ich in nicht allein! Und für die (kirchliche) Öffentlichkeit, die wahrnehmen musste, dass es Lesben gibt und dass sie nicht länger bereit sind, sich zu verstecken.
Herta Leistner wurde zur Identifikationsfigur der Bewegung. Sie war Ende der Siebziger Studienleiterin der Evangelischen Akademie Bad Boll (Kreis Göppingen) und traute sich Anfang der Achtziger, lesbische Frauen in der Kirche zusammenzutrommeln - damals fast konspirativ mit privaten Briefen an diejenigen, von denen frau "es" wusste oder ahnte.
Sie kamen 1985 zur ersten Tagung zusammen – manche voller Angst. Angst, entdeckt zu werden, den Job zu verlieren oder das Ansehen in der Kirchengemeinde und im Dorf. Ein Foto der ersten Tagung, die in Arnoldshain in Hessen stattfand, zeigt die Teilnehmerinnen von hinten, mit dem Rücken zur Kamera.
Erste Tagung: Fotos nur von hinten
Ihre Angst war nicht unbegründet. Es gab Kritik aus konservativ eingestellten evangelischen Kreisen. Dass Frauen in homosexuellen Partnerschaften zusammenleben und für ihre Treffen sogar einen Platz in einem kirchlichen Tagungshaus beanspruchen, stößt bis heute auf Unverständnis. Allerdings wird die Diskussion nicht mehr so hitzig geführt wie in den Neunzigern.
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Besonders bekam Herta Leistner (68) den Gegenwind zu spüren: Als sie zur Studienleiterin des Anna-Paulsen-Hauses in Gelnhausen berufen wurde und auch, als sie das Bundesverdienstkreuz verliehen bekam, gab es öffentliche Proteste. Sie hielt es aus – stoisch, gelassen. Weil sie zu sich und ihren Mitstreiterinnen stand. Zum 25. Jubiläum "ihrer" Bad Boller Lesbentagung am dritten Adventswochenende 2010 konnte Herta Leistner aus gesundheitlichen Gründen nicht anreisen, wurde aber per Telefon zugeschaltet und gratulierte mit den Worten: "Ich bin froh, dass eine Gruppierung von lesbischen Frauen sich 25 Jahre lang treu bleibt."
"Aufregend, überwältigend, gigantisch"
"Als ich vor 24 Jahren zum ersten Mal hier war, war das überwältigend", berichtet Hanne Hermann. "So viele lesbische Frauen!" - "Gigantisch" ist das passende Wort für Jessica Diedrich. "Aufregend", nennt Therese Hilgers ihren ersten Eindruck, denn "sonst stehst du allein da und fragst dich, wo sind denn die anderen?" Das Gefühl, wie gut es tut, nicht allein zu sein, nicht ausgegrenzt, nicht ausgefragt zu werden, kennen wohl alle Frauen auf der Tagung in Bad Boll.
So auch die Schriftstellerin Tina Stroheker (62) aus Eislingen, eine "Spätberufene". Sie war weit über 50, als sie ihr Coming-out hatte. "Hier hab ich gemerkt, dass das bei vielen so war." Heute tritt sie selbstbewusst auf, mischt sich in das kirchliche Leben in ihrem Ort ein und hat dort angemahnt, dass mit Jugendlichen mehr über Homosexualität gesprochen werden müsse. "Jetzt werden sie wohl jemanden einladen", freut sich Tina Stroheker.
Auch Therese Hilgers hatte Erfolg im Ringen um mehr Wahrnehmung: In der Evangelischen Landeskirche in Württemberg gibt es jetzt Prälaturbeauftragte, an die Lesben, Schwule und deren Angehörige sich wenden können, wenn sie Rat brauchen, Diskriminierung erfahren haben oder sich Fragen zu den biblischen Aussagen stellen. Daran hat Therese Hilgers mitgewirkt.
Nicht alle sind noch so aktiv. Manche sind auch müde geworden. Auf der Tagung in Bad Boll genießen sie einfach die Gemeinschaft und pflegen die Freundschaften, dich sich quer durch Deutschland und darüber hinaus entwickelt haben. "Unser Kampf ist gekämpft", sagt zum Beispiel Hanne Hermann.
Politische Fragen und "Jahresendritual"
Themen wie Eingetragene Lebenspartnerschaft, Gleichberechtigung im Steuerrecht, im Erbrecht, im Adoptionsrecht sind zwar zum Teil noch nicht abschließend geklärt, stehen aber doch zumindest auf der politischen Agenda. Auch für die Kirche ist Homosexualität kein Tabu mehr. In einer Schrift der EKD aus dem Jahr 1996 geht es um theologische Betrachtungen und praktische Fragen: Was steht in der Bibel zum Thema Homosexualität und wie kann man es verstehen? Dürfen lesbische Pfarrerinnen oder schwule Pfarrer im Pfarrhaus wohnen? Sollten wir homosexuelle Paare in der Kirche segnen?
Eindeutige Antworten kann auf die Schnelle niemand erwarten – zu breit ist das Spektrum der Sichtweisen innerhalb und außerhalb der Kirche. Renate Hettler (61) aus Ulm zieht in Bad Boll eine eher ernüchternde Bilanz: Sie hat nicht den Eindruck, dass sich die Akzeptanz homosexueller Menschen in der Kirche wesentlich verbessert hat. Immer noch hätten Frauen Angst, ausgegrenzt zu werden, wenn sie sich outen. Hanne Hermann stimmt ihr zu: "So richtig für voll genommen werden wir noch nicht."
Allerdings fällt auf, dass in großen Städten offenbar geht, was in manchen ländlichen Gebieten noch nicht einmal angesprochen werden könnte: Pfarrerin Maren Wichern und ihre Partnerin Jessica Diedrich leben in Hamburg im Pfarrhaus zusammen. "Bad Boll hat mich bestärkt und selbstbewusst gemacht", sagt Jessica Diedrich. Mittlerweile ist die Tagung jeweils am dritten Adventswochenende für sie so etwas wie ein "Jahresendritual" geworden.