Pfarrer Dieter Bofinger hat gerade den Segen gesprochen. Er setzt sich noch einmal hin, um in aller Ruhe dem Orgelnachspiel in der großen Stuttgarter Friedenskirche zu lauschen. 600 Leute haben dort Platz, etwa 30 sind gekommen. Ein normaler Gottesdienstbesuch an einem normalen Sonntagmorgen in Württemberg.
Eine halbe Stunde später ist alles ganz anders. Rund 150 Menschen asiatischen Aussehens füllen die Kirchenbänke. Ein stimmgewaltiger Chor in schneeweißen Gewändern schmettert Lieder, die auch auf einer Opernbühne bestehen könnten. Ein feiner Herr mit schwarzem Talar und violetter Stola redet in einer sehr fremden Sprache. Nur das "Amen" am Ende klingt wieder vertraut.
Seit 2006 ist die koreanische Nambu-Gemeinde Gast in der Friedenskirche in Stuttgart. Seit 2010 gehört sie ganz offiziell zu ihr: Eine Neuregelung im württembergischen Kirchenrecht erlaubt es evangelischen Christen anderer Sprache und Herkunft, Teil einer örtlichen Kirchengemeinde zu werden. Umgesetzt wurde das bisher dreimal in Stuttgart. Die multinationale Großstadt ist ein ideales Feld für solche Integrationsprojekte, für die es im ländlichen Raum noch an der Bereitschaft, aber auch an Christen ausländischer Herkunft fehlt.
Ein anderer Frömmigkeitsstil
Dr. Byong-Hak Kim (42) ist europäischer Patentanwalt bei Bosch. Daneben ist er seit der Fusion 2010 ordentlich gewähltes Mitglied des Kirchengemeinderats der Friedenskirche. Er entscheidet über alles mit: über die Bestuhlung des Gemeindehauses und die Ausgestaltung des Konfirmandenunterrichts. Sein Deutsch ist hervorragend. Wenn am ersten Sonntag des Monats Übersetzungsgottesdienst ist, dann ist er es, der die Predigt ins Deutsche überträgt. "Sie müssen nur den kleinen Knopf ins Ohr stecken", erklärt er.
###mehr-info###
Diesmal geht es um Hilfeleistung und Nächstenliebe. Pfarrer Teajoo Kim sagt, dass niemand von der Nächstenliebe ausgenommen werden darf. Auch nicht Nordkorea. Pfarrer Taejoo Kim (43) kam vor zwei Jahren aus der südkoreanischen Hauptstadt Seoul nach Stuttgart. Sein Deutsch holpert noch etwas, aber die Begriffe Landeskirche und Landesbischof kommen ihm problemlos über die Lippen. Kim hat ein strenges Programm, muss um 14 Uhr weiter nach Göppingen und dann nach Tübingen, wo weitere koreanische Gemeinden auf ihn warten.
300 Mitglieder hat die Nambu-Gemeinde. Nambu bedeutet einfach Süden, die Gemeinde im Süden Deutschlands. Sie entstand 1976, ihre ersten Mitglieder waren zumeist Krankenschwestern, die Anfang der Siebziger in Deutschland gezielt angeworben wurden. Viele blieben, heirateten nicht selten deutsche Ehemänner.
Kwang Ja Würstlin geborene Lee ist so eine Krankenschwester aus der frühen Nambu-Zeit. Sie verliebte sich in einen Stuttgarter Arzt und lebt ihr koreanisches Heimatgefühl an den Sonntagen in der Kirche aus. Man feiert Gottesdienst, isst zusammen Koreanisch im Gemeindehaus, trifft sich im Hauskreis, spielt Tischtennis oder geht zur Bibelstunde. Mit ihrer Kollegin Choi Lee nimmt Kwang Ja Würstlin auch regelmäßig an den Sitzungen des Umweltteams teil. Das Umweltteam ist eine Einrichtung der Friedensgemeinde, die von Deutschen und Koreanern gemeinsam getragen wird.
Fast zwei Drittel kommen in den Gottesdienst
Kirchengemeinderat Dr. Kim sagt, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl gewachsen ist, seit die Nambu-Gemeinde offiziell zur Friedenskirche gehört. "Es ist ein anderes Selbstverständnis und Verantwortungsgefühl", meint er und fügt etwas schelmisch hinzu: "Wie in einer großen WG, so müssen Sie sich das vorstellen."
Die WG gibt den Koreanern Rechtssicherheit, garantiert langfristig die Nutzung aller Räume und schließt Gema-Gebühren und die Versicherungen der Landeskirche mit ein: Haftpflicht, Rechtsschutz. Es gibt einen gemeinsamen Gottesdienst im Jahr, und 2013 haben erstmals alle zusammen ein Gemeindefest vorbereitet - als gleichberechtigte Mitglieder ein und derselben Kirchengemeinde.
Abgesehen davon lässt man sich gegenseitig in Ruhe. Jeder darf seine Gottesdienste feiern und sein Gemeindeleben führen. "Das ist ein ganz anderer Frömmigkeitsstil", sagt Pfarrer Dieter Bofinger (61) und dass er nicht neidisch ist auf den hohen Gottesdienstbesuch der Koreaner. "Wir sind individueller", sagt er. Von den 2000 Mitgliedern der deutschen Gemeinde kommen nicht einmal fünf Prozent regelmäßig in den Gottesdienst, bei den Koreanern sind es fast zwei Drittel.
"Freude" und "Geduld" beim Mittagessen
Man geht jeden Sonntag in die Kirche, wenn man bei Nambu ist. Nimmt, wenn es geht, auch mittwochs am Gottesdienst teil. Es gibt strenge Dienstpläne, jeden Sonntag ist ein anderer Bezirk mit dem Mittagstisch an der Reihe. Die Bezirke mit Namen wie "Freude" oder "Geduld" tragen in Windeseile das Essen auf und ab. Neben den Krankenschwestern sind es vor allem Akademiker wie Dr. Kim, die den Gemeindekern bilden. Eine zunehmende Zahl von Musikstudenten sorgt dafür, dass der Chor Spitzenqualität erreicht. Einer der Solisten, Attila Jun, ist sogar Kammersänger.
Das Deutsch von Pfarrer Taejoo Kim wird mit jedem Tag besser. Für ihn wird es immer einfacher, den Dienstbesprechungen zu folgen, an denen er mit Hausmeister, Mesner und seinem Kollegen Bofinger jeden Monat teilnimmt. Sein Büro ist gegenüber dem des deutschen Pfarrers, mitten in der Stuttgarter City.
"Bei der Fusion mit der Friedenskirche", sagt Jinsu Lee, früherer Vorstand der Nambu-Gemeinde, "haben wir auch an die zweite Generation gedacht." Vielleicht werden die Koreaner, die in Deutschland geboren sind, irgendwann auch zu aktiven Mitgliedern der deutschen Kirchengemeinde und helfen mit, die Zukunft der Friedenskirche zu sichern.